Was ist der Staat?
Der Staat, das sind eben wir alle; wir Millionen Menschen, die zu einer politischen Gemeinschaft vereinigt sind, die wir, jeder nach feiner eigenen Fasson, denken, handeln, arbeiten, lernen, lehren: Jeder ein Herz in der Brust, das sich nicht aufziehen läßt wie ein Automat, ein Hirn in dem Schädel, das sich nicht lenten läßt wie eine Maschine, jeder mit seinen besonderen Gefühlen, seinen besonderen Bedürfnissen, seinem besonderen Ideal, das zu erfüllen ihm Lebensaufgabe ist. Die Summe diefer Millionen von Herzen, die nie stillstehen, dieser Millionen Gehirne, die nie ruhen und raften, dieser Millionen einander durchkreuzender Wünsche, Hoffnungen, Strebungen, Intereffen das ist der Staat.
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Nach der Verlobung.
Hilde Wall war überglücklich. Seit drei Wochen war fie nun verlobt. alists
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Ihr Berehrer mit dem hübschen Namen Hans Marbach Ihr Berehrer mit dem hübschen Namen Hans Marbach hatte sein Bersprechen ehrlich gehalten vorigen Sonntag war die Feier im Kreise der Familie vor sich gegangen. Jetzt war alles gut.
Hilde lächelte verfonnen vor sich hin. Nun galt es nur noch zu rüsten für die baldige Hochzeit. Hans war städtischer Beamter, leider mit einem sehr geringen Einkommen; doch sollte die Hochzeit sein, sobald er eine festere, will sagen: beffer bezahltere Stellung bekäme.
Dazu war die beste Hoffnung. Er hatte sich beim Jugendamt gemeldet. Wegen seiner sozialpädagogischen Vorbildung bestand Aussicht, daß ihm eine Inspektorstelle übertragen wurde, wo er in der Gehaltsklasse neun immerhin seiner Hilde ein bescheidenes Heim bieten fonnte.
Hans und Hilde waren also sehr glücklich- fic lebten wie im fiebenten Himmel, an dem alles voller Geigen hing.
,, Wenn nur der Sozialpolitische Ausschuß nicht versagt, an
Hilde war faffungslos: Du meinst wirklich, die eine Stimme im Ausschuß entscheidet?"
" Ich fürchte ja; weil die anderen vom bürgerlichen Blod, auch die vom Zentrum und von den Demokraten, fein Interesse am sozialpolitischen Fortschritt haben, wird es nichts werden; wir müssen warten, bis es bessere Zeiten gibt." Hilde weinte herzerbrechend.
" Zu denken, daß man selbst schuld ist, daß man sich sein eigenes Glüd verscherzt hat", schluchzte sie.
Hans tröstete:" Gewiß ist das schmerzlich. Aber siehs was uns betrifft, das ist nicht das Schlimmste. Was aber in so einen Ausschuß das Jahr über sonst an Fortschritten ab gelehnt oder falsch gemacht wird, das ist das Traurige. Da runter leiden dann so viele unschuldige Kinder. Nun, weine nicht; wenn wieder Wahl ist, ganz gleich melche, bist Du ver nünftig, gehst hin und wählt; vielleicht wird doch noch alles gut."
ist auch so ein Fall, weil wir Mädchen nicht aufgeflärt werden. „ Ja, aber ja, Hans!" Sie trocknete sich die Augen:„ Das Alles mögliche wird einem vorgefchwätzt, aber das Wichtigste, diese politischen Pflichten, darüber spricht niemand ein Bort mit uns." Sie mar ärgerlich).
" Nun, daran soll es von mir aus nicht fehlen. Nun set tapfer. Wir wollen halt noch warten; wenn es nicht diesmal geht, dann vielleicht das nächste Mal. Möge diese Sache eine Lehre für uns alle fein, daß jede Stimme, aber auch jede, kostbares Gut für die Allgemeinheit it."
Jawohl," ftimmte ihm hilde bei, und ich werde nicht verfäumen, wohin ich tomme, meine Freundinnen und Kol
PF
leginnen aufmerksam zu machen, was eine Stimme bedeutet." Er reichte ihr die Hand. Gut, dann hat vielleicht unser warten, wenn die Stoffe abgelehnt wird, das Gute, daß Du eine fluge, politische Praut und später doch noch meine Frau wirst." Ja, Hans, das fann ich Dir versprechen."
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dem hängt alles", meinte Hans eines Abends, an dem sie 3- Politische Frauenrechte einst und jetzt.
funftspläne gefchmiedet hatten.
Wieso denn?" Sie fah ihn gespannt an. Ja, der Ausschuß muß darüber beschließen. Nun ist das so eine dumme Sache. Der Richtung, die fortschrittlich gesinnt ist, der Sozialdemokratie, fehlt in dem Ausschuß eine Stimme, um die Mehr heit zu haben. Wird der Antrag dort abgelehnt, dann geht der Amtsvorstand nicht drauf ein, das ist sicher."
" Da liegt also die Entscheidung, ob wir heiraten dürfen und fönnen, im Sozialpolitischen Ausschuß? Wie dumm!" " So ist es!", bemerkte Hans.„ Eine Stimme wird oder fann entscheiden, ob ich Jugendamtsinspektor werde oder nicht, daran beißt keine Maus einen Faden ab."
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Ja, läßt sich denn da nichts machen?"
Jeht nicht. Das ist überhaupt eine merkwürdige Sache. Bei der letzten Wahl hat die Sozialdemokratische Partei leider eine Stimme weniger befommen, als sie brauchte, um noch ein Mandat mehr zu erhalten.
,, Eine Stimme blok?" unterbrach Hilde.
"
,, Nur eine einzige Stimme, ja. Hätte sie nur einen Zettel mehr bekommen, wäre ihre Mandatsziffer um eines vermehrt worden, und das wäre gerade ausreichend gewesen, damit sie im Proporz für diesen Ausschuß eine Vertretung mehr erhalten hätte."
,, Eine Stimme?, eine Stimme?"
Wie ich fagte. Da fieht man wieder, was oft ein einziger Wähler für einen Ausschlag gibt. Jeder denkt, auf mich fommt's nicht an", aber wie Du hier siehst, ist jede Stimme von großer Bedeutung, besonders in den Ausschüssen. Warum bist Du denn so verdattert?"
Ach, Hans, wenn es an einer Stimme gefehlt hat, dann bin ich ja vielleicht sogar schuld..."
Du Närrchen, wieso Du?"
Bon Kuhei.
Viele Frauen, denen heute die politische Betätigung eine Selbsta verständlichkeit ist, die sie sich aus ihrem Leben überhaupt nicht weg zudenten vermögen, haben teine Ahnung, wie wenig weit mir von der Zeit erst entfernt find, da die politische Betätigung der Frau eine polizeiliche Angelegenheit war. Noch im schönen Monat Mai des Jahres 1902 fonnte der konservative preußische Minister Freiherr v. Hammerstein im preußischen Dreitlassenparlament fagen, daß es nicht anginge, daß Frauen in politischen Versamms lungen mitreden"."
Ich glaube," fo bemerkte er unter Beifall der Mehrheit des damaligen preußischen Dreillaffenparlamentes, es fähe traurig aus um unser preußisches Volt, um unseren preußischen Staat, wenn die leichte Erregiamfeit der Frauen gerade in öffent lichen Versammlungen das Bolf bewegen follte. Davor müffen Es soll deshalb der Polizei wir uns hüten. immer die Befugnis bleiben, und sie foll scharf eintreten, sobald die Frauen versuchen, auch politisch tätig 3u fein."
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Es kam aber doch anders. Und lustigerweise war es der Bund der Landwirte, der unfreiwillig die Ursache dazu war, daß dann die Frauen auch an politischen Bereinsversammlungen teilnehmen durften. Bekanntlich hält der Bund der Landwirte alljährlich im Zirkus Busch eine Herrschau seiner Anhänger ab. Es werden dort nicht nur ernsthafte politische Sachen verhandelt und nicht nur die bewährten tonservativen Kanonen aufgefahren, wie der brave Olden burg- Januschau, die Herren Landwirte benutten auch die Ges legenheit, nach Feierabend den Sumpf der Großstadt zu studieren. Dies und manches andere mochte wohl dazu führen, daß im Laufe der Jahre auch die Frauen der Landwirte Intereffe daran hatten, die politische Begeisterung ihrer Männer mitzuerleben. Höflich und entgegenkommend räumte ihnen die Versammlungsleitung die Galerie des Zirkus Busch ein. Daraufhin schnappte es aber bei den bösen Sozialdemofraten. Sie protestierten dagegen, " Ja bei der letzten Wahl sind so oft Leute gekommen, ich daß man den Frauen der Landwirte gestatte, an politischen Vereinsversammlungen teilzunehmen, den Frauen der Anhänger follte zur Wahl gehen, immer habe ich aber gesagt,„ ach was, anderer politischer Parteien sei dies verboten. Daraufhin ere auf mich tommt es nicht an" ich habe die Leute weggeschickt. ging an die preußischen Polizeibehörden eine feierliche Ministerial Und nun sagst Du, daß meine Stimme... Ogottogottogott.." verfügung, in der die überwachenden Polizeibeamten angewiefen Wie, Du hast nicht gewählt? Aber Hilde, wie fonntest wurden, in den von ihnen überwachten Vereinsversammlungen von Du nur! Nicht wegen unseres Falles, der allerdings sehr der Befugnis, die Entfernung der Frauen zu verlangen, dann bedauerlich ist oder es werden kann; nein, im allgemeinen: teinen Gebrauch zu machen, wenn jene nur als 3uschauering Wer fämpft für euch Frauen und Mädchen seit Jahrzehnten nen und nicht als Teilnehmerinnen erschienen seien und diese um Gleichberechtigung? Die Sozialdemokratie. Wer ihre Eigenschaft auch durch Verweilen auf den von dem eigentlichen Bersammlungsraum räumlich getrennten Plähen hera hat schon im alten Staat für euch das Stimmrecht gefordert? portrat. In der Praxis wurde das eine luftige Geschichte. Ram Die Sozialdemokratie. Nun lohnt ihr es so, daß ihr man bei der Agitation raus aufs Land oder in die kleinen Städte, nicht wählt? Hilde, sithe, es war fein Heldenstück, das war dann fand man in dem Saale , den die Sozialdemokraten oft genug leichtsinnig!" nur unter den größten Mühen bekommen hatten, die Genossen da
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