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Für unsere Kinder

Nr. 1 ooooooo Beilage zur Gleichheit ooooooo 1908

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Inhaltsverzeichnis: Herbst. Bon Theodor Storm.( Gedicht.) Vor dem Messerladen. Von H. Scharrelmann  . Spruch. Von Friedrich Schiller  . Erlkönigs Tochter. Dänische Ballade. Aus Herders Stimmen der Völker in Liedern  ". ( Gedicht.) Die Feuersbrunst auf dem Meere. Aus dem Russischen des Iwan Turgenjew  . Der Ochse auf der Löwenhochzeit. Von Theodor Ezzel.( Gedicht.) Die sieben Schwaben. Von Grimm. Schneckenlied. Von Viktor Blüthgen. ( Gedicht.)

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Serbst.

Don Theodor Storm  .

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Schon ins Land der Pyramiden Flohn die Störche übers Meer; Schwalbenflug ist längst geschieden, Auch die Lerche singt nicht mehr.

Seufzend in geheimer Klage Streift der Wind das letzte Grün; Und die süßen Sommertage Ach, sie sind dahin, dahin!

Nebel hat den Wald verschlungen, Der dein stilles Glück gesehn; Ganz in Duft und Dämmerungen Will die schöne Welt vergehn.

Nur noch einmal bricht die Sonne Unaufhaltsam durch den Duft, Und ein Strahl der alten Wonne Rieselt über Tal und Kluft.

Und es leuchten Wald und Heide, Daß man sicher glauben mag, Hinter allem Winterleide Lieg   ein ferner Frühlingstag.

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Vor dem Messerladen.

Dicht gedrängt standen die Leute vor dem Schaufenster des Messerladens, und alle Augen waren auf das neu ausgestellte Riesentaschen­messer gerichtet. In der Zeitung hatte auch davon gestanden, und fürwahr, es war auch ein Prachtstück ganz ohne Frage.

Nein, ein Taschenmesser war es ja eigent­lich nicht. Dazu war es viel, viel zu groß. Aber es hatte doch das Aussehen wie ein Taschenmesser. Die Schalen waren aus zwei großen Perlmutterstücken gearbeitet, und hun­dert, dent' einmal: hundert Teile saßen da ran! Hundert verschiedene Messer und Feilen und Sägen und Scheren! Und jeder Teil konnte eingeklappt werden, und alle hundert waren verschieden, und alle hundert waren vernickelt und glänzten und blitten. Die Jungens stan­den wohl stundenlang davor und sahen und fanden immer neue Teile, und hätten gar zu gern das Messer mit nach Hause genommen.

Ja, es war ein Prunt- und Schaustück, das Riesentaschenmesser mit seinen vielen Teilen. Was für ein geschickter Mann mußte es ge­wesen sein, der es zusammengesetzt hatte. Wie viel Nachdenken gehört sicher dazu, alle diese hundert Teile so gut passend zu machen und sie dann alle zwischen dieselben zwei Schalen anzuordnen! Hundert an einem Messer! Da war eine Riesentlinge, ein langer Dolch, ein Brieföffner, ein Federmesser, ein Fingernagel­traßer, ein Okuliermesser, eine Hippe, ein Radiermesser, eine Hühneraugentlinge, ein Linoleummesser, ein Ledermesser, eine Lan­zette usw. Da waren große und kleine und breite und schmale und rundliche und spitzige Messer und auch solch merkwürdig geformte Klingen, daß wohl mancher Beschauer nicht erriet, wozu fie gebraucht werden sollten. Und jebe dieser Klingen war nicht etwa nur zum Spaß so oder so gebogen, o nein! jede sollte ihren besonderen Zweck haben, und das aus­zudenken war eigentlich das Kunstvollste an dem ganzen Messer.

Aus Heute und vor Zeiten", Bilder und Ge­schichten von H. Scharrelmann  . Verlag von Alfred Janssen, Hamburg   1906.

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