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Für unsere Kinder

Da horch, da horch, mit Schellengeklirr, mit Pferdegetrappel und Peitschengeschwirr Geht ein Schlitten vorbei, das Roß greift aus, Säß ich drin," denkt die Alte ,,, bald wär' ich zu Eil dich, alt mütterchen, eile![ Haus." Siehst nicht, wie der Himmel in Wolken sich türmt? Wie in flocken es wirbelnd herniederstürmt? Es häuft sich der Schnee, es versinkt die Au; Rings wird es so düster, rings wird es so grau, Eil dich, alt mütterchen, eile!

Sie schleicht dahin mit wankendem Tritt, Es wächst ihr der Weg mit jeglichem Schritt,

3hr zitterndes Herz in die Augen ihr schwillt, 3hr trocknes Auge in Tränen quillt,

Eil dich, alt mütterchen, eile!

Der Pfad ist verloren, der Weg ist verschneit, Das heimische Dorf ist weit noch, gar weit, Doch den Kirchturm, von ferne kannst du ihn sehn, Du Alte, du Alte, o bleibe nicht stehn,

Eil, dich, alt mütterchen, eile!

Alt Mütterchen wandert nicht vor, nicht zurück, Die Heimat sucht ihr umnachteter Blick, Sie setzt sich langsam in weichen Schnee, Drückt das Haupt in die Kniee, ihr wird so weh, Eil dich, alt mütterchen, eile!

Das Sternenheer beginnt seinen Lauf, Die Alte sitzet, sie steht nicht auf, Der Tod schreitet her übers schneeige Feld, Thm gehört nun die schweigende, schaudernde Fliehe, alt mütterchen, fliehe![ Welt,

Die Kinder zu Hause, die jammern so sehr, Die Alte stört es im Leben nicht mehr, Die Kinder schreien nach Brot, nach Brot, Alt Mütterchen hört's nicht, alt Mutter ist tot. Schlaf nun, alt mütterchen, schlafe!

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Die Schwertlilien.*

Hinter unserem Richterhof" zog sich neben der Straße ein Graben hin, der sein Wasser einem alten Ziehbrunnen zuführte. Dieses Wasser war nicht tief, aber flar und ein­ladend, und nach Kinderweise konnte ich, be­sonders an schönen Sommertagen, nicht müde werden, mich an seinem Rande zu ergößen.

* Aus Nerto, Goldinseln, Kindheitserinnerungen. Von Frederi Mistral  . Deutsch von August Bertuch. Stuttgart   und Berlin   1908. J. G. Cottasche Buch­handlung Nachfolger.

Der Brunnengraben! Er war das erste Buch, aus dem ich spielend Naturgeschichte lernte. Da gab es allerlei Fische, Stichlinge und kleine Karpfen, die scharenweise vorüberschwammen; und die ich zu fangen versuchte mittels eines Eleinen leinenen Beutels, der zum Aufbewahren von Nägeln gedient hatte, und den ich am Ende einer langen Rute befestigte. Da gab es grüne, blaue und ganz dunkle Libellen, die ich, wenn sie auf den Teichfolben ausruhten, sachte, sachte mit meinen fleinen Fingern erhaschte, sofern sie mir nicht, mit fast unhörbarem Schwirren der durchsichtigen Flügel, entwischten; da gab Wasserfäfer mit weißem Bauche, die auf der es ,, Rückenschwimmer", eine Art kleiner brauner Oberfläche hin und her schossen und die Vorder­beinchen reckten wie ein Schuster die Arme, wenn er den Pechdraht zieht. Und dann Frösche, deren meergrüner goldgesprenkelter Rücken aus dem Ufermoos hervorlugte, und die, sobald sie mich bemerkten, behend ins Wasser sprangen; und Tauchermolche eine Art von Wasser­salamandern die den Schlamm durchstöber­ten; und dickleibige Käfer, die in den Pfüßen ihr Wesen trieben und die man" Aalfresser"

nannte.

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Denkt euch dazu ein Gewirre von Wasser­pflanzen, wie zum Beispiel die länglichen, wolligen Typhastolben, die Sumpfrosen, die ihre großen flachen Blätter und ihre weißen Blüten auf der Wasserfläche auslegen, die Teichviolen mit ihren rötlichen Blütenbündeln, die bleichen Narzissen, die sich im Wasser spie­geln, die Wasserlinsen mit ihren winzigen Blättern, und die Ochsenzungen", die sich wie Kronleuchter ausbreiten, und endlich die lieben Bergißmeinnicht, die bei uns Christ­tindaugen" genannt werden.

Aber was von alledem mich am meisten an­zog, waren die Schwertlilien. Sie wachsen in mächtigen Büscheln am Rande des Wassers und haben lange, schwertförmige Blätter und prächtige gelbe Blüten, die sich wie goldene Hellebarden gen Himmel recken. Man darf fast annehmen, daß der heraldische Name der goldenen Lilien auf blauem Grunde, des Königswappens von Frankreich   und Provence, fleur de lis", ursprünglich fleur d'iris" ge­lautet haben mag, denn Schwertlilie und Fris sind ein und dasselbe, und das Blau des Wappengrundes stellt aufs beste das Wasser Dar, auf dem die Lilien" wachsen.

Wie dem aber auch sei, so viel ist gewiß, daß an einem schönen Sommertage, bald nach der Ernte, alles, was zum Richterhofe" ge­