Nr. 4
Für unsere Mütter und Hausfrauen
Der soziale Gegensatz zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten tritt mit wachsender Schärfe in die Erscheinung und ins Bewußtsein, die Einwanderermassen verschärfen ihn und werden zu einem bedrohlichen Problem. Sprachfremd und oft in tiefste Not geratend, von Arbeitslosigkeit gedrückt in Krisen wie im alten Europa , immer mehr als Großstadtproletariat gehäuft... so sam= melt sich ein häßliches, kulturloses, verachtetes und ausbeutbares Elend, die, Wops', wie man die Italiener, Ungarn , Slawen usw. nennt, die als rücksichtslos aufzuopfernde Arbeitskräfte bei Wolfenfragerbauten und ähnlichen Gefahrenquellen der modernen Technik Gesundheit und Leben lassen.... So nähert sich die soziale Frage und Bewegung mit dem wachsenden Gedränge neuer Massen dem Vorbild der europäischen Heimat."
Das Erdreich wird aufnahmefähig für die sozialistische Ideensaat, die Behörden werden einem„ praktischen Sozialismus" entgegengeführt, das heißt Sozialreformen, die durch Hebung des arbeitenden Volkes dem Sozialismus vorarbeiten. In der Erinne= rung an die Massenquartiere der Armut im Osten und die reiche, saftstroßende Vegetation in Kalifornien nimmt der Verfasser Abschied von dem großen Land mit dem Bewußtsein, daß tapferen Menschen auch fünftig noch überfluß in die Hand gegeben ist, ausnubbar je nach ihrem Wollen und allen zugänglich zu machen durch höhere Organisation".
Eine ganz andere Welt grüßte Professor Wilbrandt in Ostasien . Ihr Kennzeichen ist die notgedrungene Anspruchlosigkeit einer Masse von Hunderten von Millionen, zusammengedrängt auf uraltem, sorgfältig auszunußendem Kulturland". Die Ökonomie Altjapans ist die des Handwerks, und namentlich eines kunstgewerblich hochstehenden Handwerks, wie es in der mittelalterlich- feudalen Gesellschaft emporwuchs, die der Kapitalismus umzuwälzen im Begriff ist. Mit den einfachsten Mitteln den Zweck erreichen, ist vorbildliche Praxis.... Nie zu viel, nie überladen, mit den einfachsten Mitteln die schönsten Wirkungen, das ist das Geheimnis des japanischen Hauses," das Gesetz des Kunstgewerbes.„ Die Kehrseite der altjapanischen Wirtschaft ist, daß die Menschen weit weniger ökonomisch behandelt werden als die ausnutzbaren Gaben der Natur." Arbeitsersparnis, Zeitersparnis, geschickte Organisation werden noch nicht als erstrebenswerte Ziele betrachtet.
Die feste Zucht der alten Sitte erzieht zur Anspruchlosigkeit und Abhärtung, zur Unterwerfung des einzelnen unter die Gemeinschaft zunächst die Familie ja zur vollkommenen Aufopferung für sie, denn die Tauschwirtschaft, der Kapitalismus, hat noch nicht die alten sozialen Bande zwischen Mensch und Mensch gelöst und die Einzelpersönlichkeit auf sich selbst gestellt. Noch wirken in alledem stark die Traditionen der alten patriarchalischen Großfamilie und ihrer Wirtschaft nach." Gesunde, fröhliche, kraftvolle Menschen leben in einer Welt zarter Schönheit und tapferer Selbstbeherrschung." Ein Abglanz des Zaubers dieser Welt liegt auf Professor Wilbrandts Schilderungen japanischen Lebens. Wir empfinden, wie freudig sein schönheitsdurstiges Auge sich an das bunte, heitere Gewimmel des Volkes verloren hat, den Reiz von Farbe und Linie, die Anmut der Bewegung genießend.
Gierig und plump ist der Kapitalismus in den Wundergarten getreten und zerstampft hier Blüten und Träume. Die Wirtschaft, das Leben Japans wird europäisiert, zum großen Teil amerikanisiert. Wohl verlangsamen Menschenüberfluß und Kapitalmangel das Tempo für den Siegeslauf der modernen Technik, jedoch sie vermögen ihn nicht aufzuhalten. Fabrikindustrien entwickeln sich, der Handwerker gerät in steigende Abhängigkeit von Händler und Fabrikherrn, die Tendenz wächst, die Handarbeit nur noch zu er= halten, wo sie die Erzeugnisse künstlerisch prägt. Ein Riß geht durch Japans Wirtschaft und Kultur, die Gebildeten führen ein Doppelleben, alte, unschäßbare Werte zerfallen und versinken, neue Entfaltungsmöglichkeiten künden sich an, alle Leiden treten auf, die sich an die Fersen des Kapitalismus Heften.
Ist diese Entwicklung zu begrüßen? Die Antwort hängt nach Robert Wilbrandt davon ab, daß der Japaner lernt, durch die Wissenschaft und ihre Praxis das alte Japan nur zu vervollstän= digen, nicht aber es unnötig aufzuopfern"; hängt davon ab, daß der blindwütende Kapitalismus durch soziale Reformen gezügelt und zum Wegbereiter des Sozialismus wird. Wir begnügen uns mit diesen flüchtigen Umrißlinien und geben in einer späteren Nummer Profeffor Wilbrandt selbst das Wort. Unsere Genossinnen werden mit Genuß und Gewinn Darstellungen japanischen Lebens ' und seiner Europäiſierung folgen; den tief eindringenden Gedankengängen über die soziale Auffassung der Prostitution, die Charakterisierung eines gewissen kulturellen Parvenütums, das in Jahrzehnten als fertige Ergebnisse übernimmt, was Europa in Jahrhunderten des Ringens geschaffen hat.( Schluß folgt.)
Feuilleton
Das rote Lachen.*
Bon Leonid Andrejew.
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... fast alle Pferde und die gesamte Bedienungsmannschaft. Und ebenso sieht es bei der achten Batterie aus. Bei unserer Batterie, der zwölften, waren am dritten Tage nur noch drei brauchbare Geschütze vorhanden, die übrigen waren total zerschossen; von den Leuten waren noch sechs Mann dienstfähig, und ein Offizier, nämlich ich. Seit zwanzig Stunden hatten wir kein Auge zugetan und keinen Bissen gegessen; dreimal vierundzwanzig Stunden lang hüllte uns dieses infernalische Gedröhne und Geknatter gleichsam in eine Wolke des Wahns, die uns von der Erde, vom Himmel, von den Unsrigen schied und uns wie Schlafwandler umhergehen ließ. Unsere Toten die lagen still und regungslos da, wir aber bewegten uns hin und her, verrichteten unsere Obliegenheiten, redeten miteinander, lachten sogar. und waren dabei wie die Mondsüchtigen. Unsere Bewegungen waren präzis und rasch, die Befehle klar, die Ausführung prompt aber wenn man plötzlich jemanden von uns gefragt hätte, wer er sei er hätte in seinem verdüsterten Hirn kaum eine Antwort gefunden. Wie im Traum schienen uns alle Gesichter längst bekannt, und alles, was ringsum vorging, schien uns gleichfalls längst bekannt und vertraut, als ob es schon einmal gewesen wäre; wenn ich dann aber eins der Gesichter oder ein Geschüß aufmerksamer ansah oder auf den Donner der Geschüße, das Pfeifen und Zischen der Geschosse lauschte machte mich alles durch seine Neuheit und seine unergründliche Rätselhaftigkeit betroffen. Die Nacht brach herein, ohne daß wir es bemerkten, und kaum waren wir sie gewahr ge= worden, kaum hatten wir uns verwundert gefragt, woher sie so plötzlich gekommen, als bereits die Sonne wieder auf unsere Köpfe niederglühte. Erst von den Kameraden, die uns bei unserer Batterie aufsuchten, erfuhren wir, daß der Kampf schon in den dritten Tag hinein wütete, doch hatten wir das gleich wieder vergessen: uns schien es, daß das alles nur ein einziger Tag ohne Anfang und ohne Ende war, der bald hell und bald dunkel, zu jeder Frist jedoch gleich unbegreiflich, gleich unfaßbar war. Und niemand von uns fürchtete den Tod da niemand von uns be= griff, was der Tod sei....
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In der dritten oder vierten Nacht, ich weiß es nicht mehr genau, legte ich mich für einen Augenblick hinter der Brustwehr nieder, und sowie ich die Augen schloß, trat sogleich das bekannte Bild vor meine Augen: das Stück blaue Tapete und die unberührte, staubige Karaffe auf meinem Tischchen. Und im anstoßenden Zimmerso, daß ich sie nicht sehen kann- befinden sich meine Frau und mein kleiner Sohn. Nur daß jetzt auf dem Tische eine Lampe mit grüner Glocke brannte, also jedenfalls Abend oder Nacht war. Unbeweglich stand das Bild vor meinem Geiste, so daß ich in aller Ruhe und mit aller Aufmerksamkeit die Tapete be= trachtete, das Spiel des Lichtes in dem Kristall der Karaffe beobachten und darüber nachdenken konnte, warum denn mein Sohn nicht schlafe: es war doch schon spät in der Nacht, und er hätte längst schlafen sollen. Noch einmal betrachtete ich dann die Tapete, all die Schnörkel des Musters, die silbernen Blumen, Girlanden und Stäbe ich hätte nie geglaubt, daß ich mein Zimmer so genau kannte. Bisweilen öffnete ich die Augen und sah den schwarzen Himmel mit den seltsam schönen, feurigen Streifen darauf, und ich schloß sie wieder, sah wieder die Tapete und die Karaffe und dachte darüber nach, warum denn mein Sohn nicht schlafe: es war doch Nacht, und er sollte längst schlafen. In meiner nächsten Nähe explodierte eine Granate, meine Beine wurden von einer unsichtbaren Gewalt zur Seite geschoben, und irgend jemand schrie laut auf- so laut, daß selbst der Knall der Explosion übertönt wurde.„ Wieder jemand tot," dachte ich, doch rührte ich mich nicht von der Stelle und verwandte keinen Blick von der Tapete meines Zimmers und der Karaffe.
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Dann erhob ich mich, ging umber, erteilte Befehle, betrachtete die Gesichter meiner Leute, stellte das Ziel ein und dachte dabei nur immer: Warum mag mein Sohn noch nicht schlafen? Einmal fragte ich einen von den Fahrern danach, und er begann mir irgend etwas des langen und breiten auseinanderzusehen, und wir nickten beide mit dem Kopfe. Und er lachte dabei, und seine * Aus„ Das rote Lachen", Fragmente einer aufgefundenen Handschrift. Einzige Übertragung aus dem Russischen von Auguft Scholz. Verlag von Scholz& Co., Berlin S 58. Dieses Buch, das während des Russisch Japanischen Krieges geschrieben wurde, verdient die weiteste Verbreitung.