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Für unsere Mütter und Hausfrauen
müßten bald einsehen, daß in dieser besten aller Welten die meisten Menschen und in erster Linie diejenigen, die alle Güter schaffen dazu verurteilt sind, früher oder später krank zu werden, ein qualvolles Leben zu ertragen und allzu früh zu sterben. Diese Er= fenntnis müßte den Willen reifen, eine solche naturwidrige Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Daher vermeidet es der Staat ängstlich, auf diesen wie auf anderen Gebieten Licht zu verbreiten, er strebt im Gegenteil danach, die große Masse in Unwissenheit und Unklarheit zu belaffen.
Wir aber, die wir das Glend und die Not, die Unwissenheit und die Krankheit aus der Welt schaffen wollen, wir müssen es sagen: nicht die Natur macht in den weitaus häufigsten Fällen die Menschen krank, sondern das tun die ungesunden gesellschaftlichen Bedingungen, in denen die meisten leben müssen. Der farge Lohn, der weder gesunde Wohnung noch auskömmliche und vernünftige Ernährung sichert, die schon im Säuglingsalter einzusehen hätte, die lange Arbeitszeit namentlich der Frauen, der mangelhafte Schlaf, die ungenügende Pflege in Schwangerschaft und Wochenbett, die Vergiftung durch Alkohol und die gewerblichen Gifte: das alles und manches andere noch ist schuld an dem leidensvollen Leben und dem allzu frühen qualvollen Tod ungezählter Frauen. Nicht Tränklein aus der lateinischen Küche tun not, mit denen die medizinische Wissenschaft die Leiden zu heilen versucht. Keine Pillen und Pulver vermögen dem durch übermäßige Arbeit und Entbehrungen jeder Art geschwächten Organismus aufzu= helfen, und kein Arzt vermag auf die Dauer dasjenige zu verschaffen, was wirkliche Hilfe brächte: gute Luft und richtige Nahrung, vernünftige Arbeitszeit und ausreichenden Schlaf. Deshalb muß er auf die Wirkung seiner Migturen vertrösten, ähnlich wie die Kirche mit dem Hinweis auf ein besseres Jenseits über das Elend dieses Lebens hinwegzutrösten sucht. Wenn wir noch auf Erden selig werden wollen, dann müssen wir die Verhältnisse so umgestalten, daß ein jeder die Möglichkeit bekommt, leiblich und geistig zu gedeihen. Dann werden auch die Krankheiten mehr und mehr verschwinden, und die Ärzte werden überwiegend ganz andere Aufgaben haben, als Rezepte zu schreiben.
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Als Nationalökonom um die Welt.
II.
( Schluß.) In China lenkt die Entwicklung in die gleichen Bahnen ein wie im Inselreich der aufgehenden Sonne, allein der revolutionierende Kapitalismus dringt hier über einen sozialen Boden vorwärts, den Natur und Kultur anders gestaltet haben. Die Nußbarmachung der Naturgaben ist bis aufs äußerste gesteigert, soweit das ohne hochentwidelte Naturwissenschaften und Technik möglich ist. Das chinefische Volk ist ein nationalökonomisches Wunder an sparsamer und fleißiger Ausnutzung aller verwertbarer Restchen; jedes Kohlenstäubchens von Kindern gesammelt, jedes vertrockneten Halms in eisiger Winterkälte noch abgemäht." Jedoch diese Skonomie ist außerstande, den Bedarf der riesig anschwellenden Menschenmassen zu decken. Der Menschenreichtum ist zur Übervölkerung geworden ,, im Sinne einer Zahl von Menschen, die nur durch entkräftende Einschränkung, durch Elend möglich geworden ist.... Das Problem, eine wachsende Bevölkerung zu nähren, ist vom Chinesentum auf das tote Geleise einer immer weiteren Einschränkung der Lebensansprüche abgeschoben worden." Die bodenständige Wirtschaft des Riesenreichs ist bloß bis zur Hausindustrie und der geschlossenen Manufaktur gekommen. Sie kann sich nur über diese Stufen erheben, wenn ihr wie in Europa Wissenschaft und Technik dienstbar gemacht werden, die„ verborgene und nur theoretisch faßbare Kräfte der Natur in den Dienst des Menschen und der Wohlstandssteigerung stellen". Die Kehrseite des alten China ist die Armut.
Der wirtschaftliche Boden Altchinas hat eine geistige, künstlerische und sittliche Kultur getragen und genährt, die an Tiefe und Reife die kulturelle Entwicklung Japans bei weitem übertrifft. Das ge= langt auch in hervorstechenden Charakterzügen der beiden Völker zum Ausdruck, wie Professor Wilbrandt in sehr interessanten Vergleichen zeigt. Die alten Sittlichkeitsgebote des Patriarchalismus sind in der Philosophie des Konfutse und Laotse zu einer Art ethischen Kantianismus" gereift, der durch die Jahrtausende eine geradezu beispiellos mächtige, wegweisende Tradition der Pflichterfüllung und des Verantwortlichkeitsgefühls für den einzelnen geschaffen hat. Ein den klassischen Vorbildern nachstrebendes Volkf steht in China vor uns, dem niemand seine Sympathie verwehren fann, der es fennen lernt".
Jedoch wie die Wirtschaft ist auch die Kultur Chinas ciner Starre verfallen. Meiner Meinung nach nicht zum wenigsten des
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halb, weil ihr die lebendigen, vorwärtstreibenden Kräfte einer Wirtschaft gefehlt haben, die sich dank Naturwissenschaft und Technit über fleinbäuerlichen Familienbetrieb, Handwerk und ge= schloffene Manufaktur erhebt und fruchtbarste Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Geisteskultur, zwischen Natur- und Geisteswissenschaften erzeugt. Die Starre mußte sich natürlich auch dem politischen Leben mitteilen. Der Despotismus, aus der patriarchalischen Familienwirtschaft hervorgewachsen, wurde konserviert und mit ihm je länger je mehr ein System der Brutalität und Korruption, das das öffentliche Leben lähmte und vergiftete und neben den alten Tugenden des Volkes Schwächen und Laster züchtete. Nun hat der internationale Kapitalismus mit gepanzerter Faust China aus seiner Erstarrung aufgerüttelt und ist drauf und dran, das Reich umzupflügen, gewalttätig, wie es seinem Wesen entspricht, und als Träger aller Schrecken und Verbrechen, die seinem Einbruch in Länder urwüchsiger Kultur eigentümlich sind. Professor Wilbrandt bestätigt das durch erschütternde Bilder aus Seiden- und Baumwollspinnereien in Schanghai , die Frauen ausbeuten und Kinder schon im Alter von fünf Jahren.„ Die Fabrikindustrie dient auch hier, wie im Europa der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, zunächst nur einer Steigerung des Gesamtreichtums, bei weiterer Verelendung seiner Erzeuger.... 14 Prozent Dividende kamen zustande, aber mit welcher Ausbeutung und Qual!"
Vergessen wir in Hinblick auf das Werden eines„ neuen" China die Bedeutung dieser Tatsachen nicht: Die weitgeſtedten Grenzen des Reiches der himmlischen Mitte umspannen Länderstriche fast aller Zonen mit den verschiedensten natürlichen Entwicklungsbedingungen für Wirtschaft und Kultur; schlicßen alle möglichen Wirtschaftsstufen ein, von der primitivsten Sippenwirtschaft und Resten des urwüchsigen Agrarfommunismus bis zum modernen fapitalistischen Betrieb; beherbergen ein buntes Gemisch von Völfern und Religionen. Wie die Dinge liegen, muß der Kampf zwischen dem Alten und Neuen in China einen kaum übersehbaren dichten Schwarm von Gegensätzen auslösen und Verwicklungen schwierigster Art erzeugen.
Der deutsche Nationalökonom fuhr durch China in den Tagen der Revolution, in der es um eine notwendige Industrialisierung nach europäischem Muster ging und um die ebenso unentbehrliche Erneuerung der produktiven Kräfte". Sie enthüllte den undermeidlich revolutionierenden Gegensatz des aufsteigenden kapita listischen Bürgertums im Süden zu dem konservativen Junkertum des Nordens". Der Wahrheitsdrang des Forschers und die ein= fichtsvolle Sympathie für das alte, hochstehende Kulturvolk der Chinesen ließen ihn Umschau halten, ob dieses Volf in sich selbst auch die Kräfte Charakter und Intellekt zu wirtschaftlicher Erneuerung trage und damit zur selbständigen Führung einer modernen, durch Industrie vervollständigten Volkswirtschaft". Die Missionare behaupteten, das Christentum sei berufen, die dazu nötige Erziehungsarbeit zu vollbringen. Aber", sagt Professor Wilbrandt dazu, so viel das Erziehungswerk der Missionen Gutes stiften mag, sehen wir nicht auch im Chineſentum selber eine Quelle neuer Kraft?" Die Revolution ist es, die nach ihm diese Quelle zu erschließen scheint. Und so vermag der Gelehrte die Frage nicht unbedingt zu bejahen, ob das Kulturvolk der Chinesen " gealtert" sei, so daß ihm die Kraft zur Wiedergeburk fehle,„ bielmehr zeigt gerade die Revolution, ihr Geist und ihre Arbeit erstaunlich jugendliche Elastizität".
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Die Übergangszeit mit ihrer überwuchernden falten Verstandesfultur, ihrem Drängen nach Zweckmäßigkeit", Gewinn, bedroht wie in Japan unter anderem namentlich die künstlerischen Werte; doch sah Professor Wilbrandt bereits hoffnungsreiche Anzeichen, Denkmäler der alten Kunst zu erhalten, und er kommt für die fünftige Entfaltung der ästhetischen Kultur zu diesen bemerkens werten Schlußfolgerungen:" So mag, wie bei uns die gefährdete Schönheit naiver Vergangenheit nun bewußt erneuert und geschützt wird, auch dort die Romantik sich neben der fortschreitenden Technif bewähren, konservativ im besten wirtschaftlichen Sinne und Untergrund zugleich für das, was auch dort die alte Tradition, nach einem Jahrhundert der Industrialisierung und der sozialen Frage, einst aufnehmen und neu beleben kann: der Sozialismus, dessen Theorie hereingetragen, dessen Praxis gelernt werden wird vom europäischen Vorbild. Reicher und stärker geworden durch kapitalistische Entfaltung der Industrie, mag das chinesische Volk die damit verbundenen sozialen Gegensätze einst überwinden durch den ihnen entspringenden antikapitalistischen Geist des Sozialismus, der die romantische Stimmung fruchtbar macht zu neuem Aufbau der Gesellschaft, auf dem Grunde der Befriedigung des wirklichen Bedarfes an Stelle niederer Geld- und Genußsucht."