Nr. 5

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Für unsere Mütter und Hausfrauen

Wir müssen uns bedauernd versagen, auf die Einblicke und Aus­blicke einzugehen, die der vierte Abschnitt der Schrift über den Batriarchalismus" in den Tropen vermittelt, wie über die Rolle des Europäers als Erzieher", der dort in die Kinderstube der Menschheit" tritt. Auf dem Heimweg, in Ägypten  , empfand Pro­fessor Wilbrandt die drückende Schwere der durch und durch ma­terialistischen europäischen Zivilisation, die dem materiellen, von außen durch Sachgüter zuzuführenden Lebensgenuß mit so viel Kraftaufwand nachjagt.... Das Objekt, die Außenwelt wird unter­worfen, Raum und Zeit überwunden; der Mensch hetzt sich und andere, um diesen Reichtum äußerer Mittel zu erringen und zu genießen. Doch was er bei alledem einbüßt, die Ruhe, die Glücks­fähigkeit, den inneren Reichtum eines noch nicht am Objekt ver­armten Subjekts, das hat noch der so viel ärmere Mensch des Ostens."

Und die Ursache dieser wie anderer unerquicklichen Erscheinungen und Verluste, die sich bei einem rückschauenden Vergleich vor des Weltreisenden Seele stellen? Es ist der Kapitalismus oder, wie Professor Wilbrandt es nennt, der Tausch, die auf selbst versorgte Eigenwirtschaft folgende höhere Stufe, die uns diese Probleme aufgibt, ohne auch ihre Lösung hinzuzufügen. Der Tausch kennt nur den Erwerb von Geld, mit dem man Güter kauft, und dafür das Streben nach Absah, das um so besser gelingt, je mehr, Bedürfnisse man in den anderen weckt; und es ist vom Standpunkt des Tauschsystems gesehen ganz gleich, ob die Men­schen dabei besser, reiner, ob ihr Empfinden und ihr Anblick schöner wird wenn nur gekauft wird, was man anzubieten hat, dann war der Markt ja, gut, dann ist, Aufschwung', dann hetzt und jagt sich alles ab, um zu produzieren, was nur konsumiert werden soll, damit produziert werden kann, damit die Produzenten Absatz und so erst Eristenzmöglichkeit finden. Das ist es, was uns auf den Weg des rajstlosen Erwerbens und Genießens getrieben hat: der verhängnisvolle Kreislauf, daß um des notwendigen Erwerbs willen, schon zur Daseinsfristung nötig, fremde Bedürfnisse ge= ahnt, gewedt, gesteigert werden müssen, und daß das, was sodann allgemein unentbehrlich geworden ist, wieder um so mehr Geld­crwerb nötig macht. Die Unternehmung, und gar ihre kapita­listische Vollendung im Großbetrieb, sie kann nicht anders, als mit gewaltigem Aufwand an Reklame den Menschen aufzudrängen, was sie erdacht hat an neuen Möglichkeiten des Genusses, um da= durch wieder den unentbehrlichen Maffenabsatz für ihre Massen­produktion zu steigern; weit raffinierter Neues ersinnend und die Gier aufstachelnd als jemals früher, da noch der Sklave oder Diener vom Herrn erst darauf gestoßen werden mußte, nicht aber von sich aus Anlaß hatte, mit Gifer neue Genüsse der Herrschaft auszudenken, um desto mehr Arbeit sich aufzubürden."

Welche Wege führen zur Überwindung der zerrissenen, zwiespältigen Gegenwart? Professor Wilbrandt antwortet: Gibt es auf die Dauer etwas anderes, was uns noch bleibt, als dies: die ungehobenen Schätze zu ergraben, die in den Menschen als Anlagen und in unserer Kultur als erhebende, der Masse aber völlig fremd gebliebene Errungen­schaften verborgen liegen! Diese Schäße, vom Kapitalismus ungenügt gelassen, da sie ihm nicht zugehören, das sind die letzten Reserven, die wir haben. Alle hohen spezifisch menschlichen Kräfte zu Hilfe rufen und als Mittel dafür Erziehung, Bildung und Fürsorge, zu= gleich Befriedigung tiefsten Bedürfens, so zur Freiheit erziehen und für sie fähig machen, feine der menschlichen Anlagen ungenügt lassen, sie fonservieren, ja sie zu züchten suchen ist das nicht die große ökonomische Aufgabe der Zukunft, unentbehrlich neben den konserva­tiven Kräften, den lenkenden Gewalten, ja weit über diese hinaus­tragend an künftiger Bedeutung? Das ist es ja im Grunde, was jene oft mißverstandenen Bewegungen wollen: die der Frauen und die des Proletariats. Die verfügbaren, aber nicht ausgenützten Kräfte im Innern des Menschen sind es, die in diesen Bewegungen um Entfaltung ringen, wie mit einem angstvollen Schrei hinausrufend: Laßt uns nicht ersticken unter Überfluß und Mangel, laßt uns die Kräfte der Heilung sein, deren die Welt bedarf!

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,, lind eine Reformarbeit reiht sich an die andere, von jenen sich hinausringenden innersten Kräften hervorgetrieben. Aber es ist nicht der Tausch, in dem sich das vollzieht. Und Naturgesegen vergleich bar zeigt pünktliche Wiederkehr die Wirkung und Gewalt des im Tauschverkehr waltenden Eigennutes, dessen Wirksamkeit wir voraus­setzen dürfen, um wie Naturforscher wissen zu fönnen, wie eng be­grenzt in dieser wirtschaftlichen Sphäre die Möglichkeit sozialpoli­tischen Eingriffs ist.

" Darum treibt uns die Erkenntnis dessen, was verloren wurde, das Neue zu suchen in einer den Tausch überwindenden höheren Entwicklung. Gemeinwirtschaft, frei aufzubauende neue und zwangs­weise erneuerte, völlig versorgende oder wenigstens ein Minimum

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sichernd, hat bereits begonnen, über dem Tauschverkehr sich zu er= heben; und Erziehung, ohne Zwang doch wirkend, schickt sich an, sich denen zu widmen, die empfänglich sind für Gutes, das man ihnen bietet. So wird der soziale Grund gelegt für die Ökonomie des inneren Reichtums. Nach innen wendet sich die Ökonomie, wie unsere Weltbetrachtung es schon getan hat. Und so mag uns doch nicht unerreichbar sein, was die Weisheit des fernen Ostens uns lehren konnte."

Es ist bekannt, daß Professor Wilbrandts Sozialismus manche Züge trägt, die ihn von der Lehre Mary- Engels' unterscheiden. Aber die Herrschaft des Burgfriedens ist nicht die Zeit für eine kritische Auseinandersetzung darüber, weil eine solche ohne eindringende Analyse der bürgerlichen Ordnung unmöglich ist. Außerdem: trot des Trennenden wieviel Gemeinsames! Das aber nicht etwa im Sinne jener trivialen Genügsamkeit, die bei jedem halbwegs einsichts­vollen Wort eines leibhaftigen Professors jede Besinnung verliert. Seine sozialistische Weltanschauung hat Professor Wilbrandt selbst­verständlich auch über die engen Schranken der Vorurteile gegen Nationen, Rassen und Religionsbekenntnisse hinweggetragen. In der. geistigen Freiheit einer weltbürgerlichen Gesinnung sucht er fremdes Wesen zu verstehen, um ihm gerecht zu werden. Es ist das einer der liebenswertesten und zugleich erhebendsten Züge seines Schriftchens. Wir lesen da zum Beispiel: Daß Vorurteile berichtigt, daß die Schätzung anderer Völker forrigiert, daß von ihnen gelernt und eine innerliche Annäherung erreicht wird, troß allem Nationalismus, den man findet und in sich selbst geklärt nach Hause trägt, das alles ist ein elementares, unwiderstehliches Erleben, das mit der ganzen Menschheit verbindet, in ihre Jugend und Kindheit zurück­führt und zum Ausblick auf ihr Heranreifen, ihre Zukunft anregt.... Um die ganze Welt ziehen sich heute die Empfindungen des Dankes, der Gemeinsamkeit; und gleiches Wollen, kaum aufgehalten von der Gegnerschaft der Staaten, die das Verhältnis der Feindschaft gegen die Stammesfremden fortführt, spinnt Fäden der Sympathie, der freien Hingabe an dieselbe Sache; Vorahnung dessen, was gewoben werden mag durch Milliarden von Tritten am Webstuhl der Zeit, zusammenschießend aus umfassender Wirtschaftlichkeit und ausreifen­der Menschlichkeit zum dichten Gewebe organisierter Gemeinschaft." Wer jetzt den Samum der nationalistischen Überhebung, der chauvi­nistischen Heze gegen Völker über sich hinbrausen fühlt, die reichste Schätze zum kulturellen Menschheitserbe beigesteuert haben: den wird die Lektüre von Wilbrandts Schrift anmuten wie ein Trank aus frischer Quelle in grüner, blütenreicher Dase. Klara Zetkin  .

Feuilleton

Das rote Lachen.

Von Leonid Andrejew  .

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( Fortsetzung.)

Ich blickte aus dem Zuge in die Nacht hinaus: an verschiedenen Stellen des Horizonts standen unbeweglich, gleich einer unheim­lichen, schweigenden Kette, mächtige rote Flammenzeichen am Himmel als wenn zehn Sonnen zu gleicher Zeit aufgingen. Und es war auch nicht mehr so finster: in der Ferne hoben sich die kom­pakten, dunklen Massen der Hügel in bald eckiger, bald gewellter Linie scharf ab, während in der Nähe alles in ein rotes, sanftes, ruhiges Licht getaucht war.

Der Zug machte plötzlich Halt, so plötzlich, daß ich mit dem Kopfe gegen die Wand schlug. Man vernahm Stimmen, und wir sprangen auf.

Dicht vor der Lokomotive lag irgend etwas auf dem Bahnkörper, wie ein Bündel, aus dem ein Bein hervorstarrte. Ein Verwundeter?"

Nein, ein Toter. Der Kopf ist abgerissen. Wenn Sie wollen, zünde ich die vordere Laterne an. Sonst überfahren wir noch jemanden."

Der Klumpen mit dem hervortretenden Bein wurde zur Seite geschoben; das Bein wippte einen Augenblick empor, als ob es durch die Luft entfliehen wollte, dann verschwand alles in dem schwarzen Graben, der am Bahndamm entlang lief.

" Horcht mal!" rief jemand mit verhaltenem Entsetzen. Wir lauschten in die Stille der Nacht hinaus. Von überallher vernahm man ein gleichmäßiges, heiseres ächzen, wie ein Scharren und Krazen, ganz seltsam ruhig und fast monoton in seiner Breite. Wir hatten schon so viel ächzen und Schreien gehört, dieses Achzen aber war von ganz anderer Art als alles das, was wir bisher vernommen. Es ließ sich nicht bestimmen, woher es fam. Auf der in trüben, rötlichen Dämmerschein getauchten Fläche konnte das Auge nichts erkennen, und so schien es, als ob