Wer wurde überfallen? Die Opfer wollen«Ich nicht melden- Stummer Protest gegen die Henkerjustiz Aus dem Munde des Goebbels wissen wir, dass in den sieben Jahren nazistischer Volksbeglückung die Kriminalität in Deutschland immer mehr zurückgegangen und auf ein solches Minimum herabgesunken ist, dass sie eigentlich unter Denkmalsschutz gestellt werden müsste... Erscheint es da nicht wunderlich, dass die Führer sich jetzt im Kriege veranlasst sehen, gegen kleine Diebestaten und Räubereien mit der Todesstrafe zu Felde zu ziehen, sobald es sich um Vergehen handelt, die während der Verdunkelung begangen werden? Man kann buchstäblich keine deutsche Zeitung aufschlagen, ohne von dieser Rarbarjustiz schaudernd Kenntnis zu nehmen. Die rohe Henkerjustiz der Barbaren hat indessen ein unerwartetes, ein seltsam paradoxes Ergebnis gezeitigt: Die deutsche Polizei, deren Aufgabe es doch eigentlich wäre, nach Untätern, nach Verbrechern zu fahnden, muss sich jetzt im Gegenteil immer häufiger auf die Suche nach deren Opfern begeben. Ein konkretes Beispiel sei angeführt: In Stettin wurde gegen Ende des vorigen Jahres in verschiedenen Gegenden der Stadt eine Serie von nächtlichen Raubüberfällen auf Strassenpassanten verübt, von denen die Polizei nur dadurch Kenntnis erhielt, dass zwei ursprünglich wegen einer anderen Angelegenheit verhaftete junge Burschen ein allgemeines Geständnis ablegten, wobei sie auch jene Ueberfälle eingestanden, von denen— wie gesagt— die Polizei vorher nicht die geringste Ahnung gehabt hat. Denn die Opfer, jene Personen, die von den Burschen angefallen, niedergeschlagen und bestohlen worden waren, hatten diese rohe Behandlung und den Raub ihrer Barschaft-- schweigend hingenommen. Sie hatten keine Anzeige erstattet, keine Verfolgung der Täter in die Wege geleitet. Warum? Wenn es sich um einen einzelnen Fall handeln würde, könnte man vielleicht annehmen, dass der Ueberfallene selbst irgendwelchen Grund gehabt habe, die Berührung mit der Polizei zu meiden. Aber es handelt sich eben nicht um einen, sondern um mehrere Fälle und der Stettiner Polizeipräsident, SA -Obergruppenführer Jahn, sah sich schliesslich genötigt, die Presse zu alarmieren und die Bevölkerung der Stadt in einem Aufruf dringend zu ermahnen, dass sie derartige Ueberfälle und Diebestaten doch ja nicht der Polizei verschweigen möge... Warum haben die Opfer jener Ueberfälle geschwiegen? Es gibt nur eine Deutung. Sie alle wollten nicht eine Anzeige erstatten, derzufolge- zwei Menschen— mochten es auch rohe Diebesgesellcn sein— dem Henkerbeil überliefert werden könnten. Sie hätten den Tätern sicher eine gerechte Strafe gewünscht, eine Busse, die im rechten Verhältnis zum Vergehen stünde. Aber Todesstrafe für einen Fausthieb, ein geraubtes Portemonnaie,— darin sahen die Opfer keine Justiz, sondern-- Mord! Sie wollten lieber Unrecht schweigend erdulden, als an ungleich grösserem Unrecht sich indirekt mitverantwortlich fühlen. „Wer wurde überfallen?"— so fragt mit fetten Lettern der Aufruf des Stettiner Polizeipräsidenten.„Die Opfer werden aufgefordert, sich umgehend auf Zimmer 46 des Polizeipräsidiums zu melden!..." Schreiender Widersinn des aus den Fugen gebrochenen, geschändeten Rechts: der Verbrecher hat gebeichtet, aber das Opfer weigert sich hartnäckig, ein Geständnis abzulegen. Die Ueberfallenen stellen sich schützend vor die Spitzbuben und Stras- senrowdys,— in denen sie das kleinere- Uebel erblicken. Aus dem Schweigen der Opfer spricht zum verdunkelten Deutschland die Stimme- des Gewissens und der Menschlichkeit. Cial�en und Rad Das parodierte Uitlelalter Die deutsche Presse registriert täglich einige Hinrichtungen— etwa so, wie sie von leichteren Verkehrsunfällen und Witterungsschäden Notiz nimmt. Uns liegen drei Nummern der„Frankfurter Zeitung " vor und wir zählen: am 6. Januar 3 Hinrichtungen, ein Todesurteil; am 7. Januar ein Todesurteil; am 8. Januar 5 Hinrichtungen. Das Dritte Reich hat die Umwelt bei seinen Terrorakten im Innern, bei seinen Ueberfällen auf die Tschechoslowakei und Polen an grauenhafte Todesziffern gewöhnt. Was die ständig sich steigernde Mordjustiz besonders gespenstisch erscheinen lässt, ist nicht so sehr die Zahl der Opfer, als vielmehr die Verschiedenartigkeit der Delikte. Ob jemand einen Raubmord begeht oder ein oppositionelles Plakat an die Mauer klebt, ob jemand seinen Bruder in einer Scheune verbrennt, um die Versicherungssumme zu erschwindeln oder Zigaretten mit falscher Banderole verkauft, ob jemand eine Frau ermordet oder während der Verdunkelung ein Handtäschchen stiehlt, ob jemand einige Kinder umbringt und verscharrt oder einen Stroh. schober anzündet— das Hitlerregime kennt auf all diese Vergehen nur eine Antwort: Kopf ab! Der mittelalterlichen.Strafjustiz des Hit- lerrcgimes fehlt die Strafskala des Mittelalters. Damals machte man je nach der Schwere der Untat sehr wohl einen Unterschied zwischen Tod und Tod, und ob einer gevierteilt oder aufs Rad geflochten, verbrannt oder einfach gehängt wurde, das hing immerhin von seinem Verhalten ab. Die Neuzeit erweist sich auch hier wieder als eine dem Dritten Reich unangemessene Epoche knochenerweichender Dekadenz. Hinter den Kulissen sind die nationalsozialistischen Schergen zwar bemüht, einige Variationen zu schaffen— einem des Hochverrats bezichtigten Oppositionellen wird der Vortod in der Untersuchungshaft bestimmt schwerer gemacht als einem simplen Raubmörder— aber im allgemeinen kontrastiert die Einförmigkeit des sozusagen modernen Strafvollzugs doch sehr ärgerlich mit der sadistischen Vielfalt der Sondergerichtsurteile. Was die Zeitungen anlangt, so begleiten sie das blutige Schauspiel mit aufgeregten Entschuldigimgsfloskeln. Das heisst, sie können sich in der Karikierung der hingerichteten Opfer nicht genug tun. Keiner dieser Menschen ist eigentlich ein Mensch gewesen, und besonders die kleinen Verbrecher und die Politischen, deren Delikt dem Leser geringfügig, wenn nicht gar sympathisch erscheinen könnte, werden als feist und scheeläugig, hinterhältig und feige, verlogen und grausam hingestellt, werden wie die bösen Geister im Märchenbuch mit den schwärzesten Farben angepinselt. Die Anweisung, so zu verfahren, stammt natürlich aus dem Propagandaministerium, das gewöhnlich den vollständigen Text für die gesamte Presse liefert. Ob Goebbels sich richtig verhält, ist auch in diesem Falle wieder recht fraglich. Wenn es sich bei der Hinrichtungswoge um reine Nervositätsmorde des Regimes handelte, hätte er recht. Wenn aber eine abschrek- kende Wirkung erzeugt werden soll— und daran ist kaum zu zweifeln— hat er unrecht. In diesem Falle wäre es besser, in aller Oeffentlichkeit zu erklären:„Seht, so geringfügiger Delikte wegen lassen wir Menschen köpfen. Menschen, wie ihr es seid. Nehmt eure Köpfe in acht!" Dieses Bekenntnis wäre nicht nur wahrhaftig, es wäre auch nützlich. Wenn das Regime den Anschein erweckt, als handle es sich bei den fünf täglichen Hinrichtungen jedesmal um fünf Ausnahmefälle, jedesmal um die Beseitigung monströser, menschenunähnlicher Geschöpfe, werden nur die Konturen verwischt, wird die abschreckende Wirkung nur beeinträchtigt. Aber das ist ja gerade das alte Leiden. Klar und unzweideutig sind nur die Verbrechen des braunen Regimes. Sobald die Verbrecher den Mund auftun, verdrehen, vernebeln und verbiegen sie ihre Taten, bis aus schwarz weiss und aus weiss rot geworden ist. Diese Halbheit, die merkwürdigerweise auf noch immer vorhandene, wenn auch stark verkümmerte Gewissensansätze schliessen lässt, hemmt den frisch- fröhichen Fortgang der Barbarei viel mehr, als die nationalsozialistischen Barbaren es ahnen. Fünf Hinrichtungen am Tag und fünf Verteidigungsreden dazu— das ist schlechte Arbeit. Wenn die Führer nicht bald zu öffentlichen Verbrennungen und Vierteilungen übergehen, holen sie das Mittelalter vor ihrem eigenen Ende nicht mehr ein. über den übergeordneten Parteidienststellen." In diese„Menschenführung auf der Kreisstufe" darf sich der Landrat oder der Bürgermeister nicht einmischen, aber dafür hat auch der Kreisleiter„Eingriffe in die laufende Verwaltungsführung" zu unterlassen. Er muss aber frühzeitig von allen Projekten der Verwaltung unterrichtet werden und er hat das Recht, dem Landrat Anregungen und Hinweise zu geben. Uebermässig säuberlich ist die Kompetenzabgrenzung zwischen Partei und Verwaltung in dieser neuen Anordnung nicht, trotz der drei gewichtigen Unterschriften, die sie trägt— aber das war gewiss auch nicht die Absicht. Die Dlklalur de« Kreltalellers Die Herrschaftsansprüche der nationalsozialistischen Kreisleiter haben über Teile des deutschen Verwaltungsapparates einen solchen Unfrieden heraufbeschworen, dass Göring , Hess und Frick mit vereinten Kräften die Rolle der Freidensstifter übernehmen mussten. Sie haben gemein- schafllicb eine im„Reichsgesetzblatt " veröffentlichte„Anordnung über die Verwaltungsführung" erlassen. Im ersten Satz dieser Anordnung werden die Kompetenzen der Kreisleifer folgendermassen definiert: „Die Menschenführung ist allein die Aufgabe der Partei und wird in der Kreisstufe durch Kreisleifer wahrgenommen." Zur„Menschenführung in der Kreisstufe" gehört nach der Anordnung:„Die Stärkung der seelischen Kräfte zur Verteidigung des Reiches",„die Erweckung von Verständnis für die Notwendigkeit und Zweckmässigkeit der im Abwehrkampf zu treffenden Massnahmen" und„die Ueber- nahme der Verantwortung für die Stimmung und Haltung der Bevölkerung gegen- Oer Kampi um den deufschen Facliarheiter Staatssekretär Syrup , der über die Verteilung der deutschen Arbeitskräfte zu gebieten hat, hielt vor der„Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaft" einen Vortrag über den„Arbeitseinsatz im Krieg". Nach dem Bericht der „Frankfurter Zeitung " vom 13. Januar beschäftigte er sich eingehend mit dem Mangel an Facharbeitern, um die heute zwischen der deutschen Wehrmacht und der deutschen Wirtschaft ein Wettstreit entbrannt ist. Die Konkurrenz der Wehrmacht und der Wirtschaft um den deutschen Facharbeiter wird als natürlich bezeichnet. denn der hochqualifizierte Facharbeiter sei zugleich der geeignete Soldat für die technischen Truppen. Im Grunde habe dir Wirtschaft hier vielfach die Vorlehre fnr die technischen Truppen übernommen. Un" ter diesem Gesichtspunkt sei bereits vor dem Kriege der Ausbildung der Lehrling« in der Eisen- und Metallwirtschaft erhöht« Aufmerksamkeif geschenkt worden. Die Militärs werden ermahnt, den Facharbeiterbedarf der Wirtschaft nicht als eine rein wirtschaftliche Angelegenheit anzusehen, denn schliesslich trage die gesamte deutsche Industrie, der Export und der Verkehr, und nicht nur die eigentliche Rüstungsindustrie zur deutschen Rüstung bei. Die wandelbare Nazibibel. Zur Verteilung an die deutschen Soldaten wurde eine Taschenausgabe von Hitlers „Mein Kampf auf Dünndruckpapier hergestellt, aus der |des Führers grosse Gedanken über Russ' jland und den Bolschewismus sorgfältig ausgemerzt sind. Eine wohlverdiente Ohrfeige! Die Ko"1' munisten bilden eine Partei, deren Stimm1 im Rate des Staates gehört werden soll!«' Es ist eine üble Sache sie zu unterdrücken, undemokratisch und zugleich unwürdig* (Der Deutsche Rundfunk zu dem Gesetz ge gen die kommunistischen Deputierten 1 Frankreich .) Teures Benzin. Die Ruhrbenzin A. G. j'1 Oberhausen , die Benzin aus Kohle h erste hat ihr Aktienkapital im letzten Jahr 9 auf 15 Millionen Mark erhöht. IJ1 � Schulden stiegen von 27.3 auf 36,9 Mil' nen Mark und ihr Verlust belief s'c'l-,.,nt, letzten Jahr auf 2,6 Millionen Mark. E' Politik, die erlaubt, Benzin in beliebig Mengen zum Weltmarktpreis zu kau � müsste für Deutschland eine glänzende flndung sein.
Ausgabe
8 (4.2.1940) 346
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