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Für unsere Mütter und Hausfrauen

Das dünne Bändchen zeichnet in farbigen Umrissen die Eindrücke einer halbjährigen Reise, die den Tübinger   Nationalökonomen von Ende September 1911 bis Anfang April 1912 durch Nordamerika  , dann nach Japan  , Korea   und China   geführt hat und von dort durch die Tropen nach der Heimat zurück. Schon diefe Angaben lassen er­fennen, daß es sich dabei nicht um eine Studien- und Forschungs­fahrt großen Stiles für den Fachgelehrten gehandelt hat, sondern um die Erweiterung des Gesichtskreises überhaupt". So ist denn auch die Schrift keine gelehrte Abhandlung für verhältnismäßig wenige, in der man an allen Enden und Ecken das wissenschaftliche Rüstzeug flappern hört. Sie wendet sich vielmehr an ein großes, erkenntnis- und bildungshungriges Publikum, dem sie durch Schil­derungen, Tatsachen, Urteile und Anregungen das vermittelt, was der Verfasser selbst gesucht und erreicht hat: eine Steigerung des Vermögens, fremde gesellschaftliche Zustände und Entwicklungs­stufen vorurteilslos zu werten.

Jedoch hinter dem, was sich schlicht, anmutig, stellenweise fast als feuilletonistische Plauderei gibt, steht der kenntnisreiche Ge= lehrte, der die neuen, fremdartigen Erscheinungen vergleichend wägt und sich dank einer festgegründeten wissenschaftlichen For­schungsmethode nicht an ihre bunte Fülle verliert, sondern diese durchdringt und gliedert. Ja, mich will bedünken, daß die feste Formel manchmal die erstrebte Weite des Gesichtsfeldes einengt, daß Dinge und ihre Erklärungen zu bedenkenlos nach einem Schema sozialer Entwicklungsreihen gebucht werden. Allein das ist der unvermeidliche Schatten des hellen Lichtes, das im allgemeinen das Buch durchleuchtet. Die kurze Reisedauer, in der sich ganz ver­schiedenartige Welten des Erlebens zusammendrängten, hat Professor Wilbrandt selbst erklärt das auch einzelnes Flüchtige und Unvollständige gebracht. Es sei die Erklärung für den raschen, ja viele überraschenden Triumph der Frauenemanzipation in den Vereinigten Staaten herausgehoben, die Gewährung des Frauen­wahlrechts inbegriffen.*

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Profeffor Wilbrandt führt als Grund dafür den Mangel an Frauen an, der zur Frauenverchrung führte und in Verbindung mit dem rauhen Kolonistenleben dem ich für spätere Zeiten die rücksichtslose Jagd nach dem Dollar hinzufügen möchte das Weib als Trägerin geistiger und ästhetischer Werte im Hause und in der Gesellschaft erscheinen ließ. Die aufgezeigten Zusammen­hänge sind unbestreitbar. Ihre Wirkungen äußern sich bis in die lärmerfüllten Fabritsäle hinein, wo sonst gerade nicht zartbesaitete Männer beim Nahen von Arbeiterinnen grobe, zynische Gespräche mit dem Ausruf unterbrechen: Still, die Damen kommen." Aber zwingen die Umstände, die Robert Wilbrandt   als entscheidend allein in den Vordergrund schiebt, nicht die Frage auf: Warum haben in den spanischen und portugiesischen Kolonialländern Amerikas  Frauenmangel und Frauenverehrung nicht die gleichen Folgen ge­zeitigt? Das Suchen nach einer Antwort darauf lenkt den Blick auf eine große Vielheit von Erscheinungen, die wir an dieser Stelle nicht einmal vollständig andeuten können.

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Die Engländer kamen nach Nordamerika   nicht als Konquistadoren, als Eroberer, die danach gierten, der neuen Welt für die alte Heimat Schätze abzupreffen. Was die meisten von ihnen über den Ozean trieb, war der Wunsch, lastendem religiösem und politischem Drucke zu entrinnen und sich als Ansiedler eine zweite, freiere Heimat zu schaffen. Der Zwang der Lebensfürsorge das Wort im weitesten Sinne genommen erfüllte für die Kolonisten und Seftierer mit verstärkter Kraft, was unter dem gleichen Zwange im Laufe der Zeit zum Erbgut germanischer Völkerschaften zumal in England geworden war: die überwiegende Wertung der Frau nicht als Weibchen, nicht als Schmuck und Lurus des Lebens, sondern als Arbeits- und Kampfgenoffin. Für den puritanischen Seftierer war die geistige Gemeinschaft mit dem Weibe und dessen Lebenstüchtigkeit von höchster Bedeutung gewesen, geradezu ein Gebot der Selbsterhaltung. Und wie hätte der Ansiedler an der Ostküste von Nordamerika   zu einer gewandelten Auffassung kom­men sollen, er, der jeden Tag mit einer riesenhaften, jungfräulich spröden Natur um Obdach, Nahrung und Kleidung ringen und dabei noch den Kampf mit den Eingeborenen bestehen mußte?

Die Kolonisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts betrachteten das Weib mit anderen Augen als etwa die Goldfucher, die uns Bret Harte   und andere Novellisten in marfiger, aber etwas roher Holzschnittmanier schildern. Ihre Wertschäzung fiel vor allem der arbeitenden Frau zu, die mit flugem Sinne und fester Hand das Heim gestaltete, verwaltete und im Notfall auch schützte, und die bienenfleißig durch produttive hausgewerbliche Tätigkeit den Bedarf der Familie an allerhand Kulturgütern deckte. * Siehe Nr. 1 der Gleichheit".

Nr. 3

Später hat die Erschließung und Kolonisation des weiten, wilden Westens" immer aufs neue ähnliche Umstände gezeitigt, indem sie tatkräftige Männer loďte und leistungstüchtige Frauen forderte. Der Unabhängigkeitskrieg des achtzehnten Jahrhunderts steigerte den Wert der produktiven Frauenarbeit für die einzelnen, ließ aber auch ihre Bedeutung für die Wirtschaft des Gemeinwesens scharf hervortreten, denn während die Männer gegen Englands Ober­hoheit kämpften, mußten die Frauen und Töchter in großem Um­fang den Markt mit den Erzeugnissen ihres Spinnens, Webens, Färbens usw. versorgen.

Als gegen die Wende des neunzehnten Jahrhunderts die moderne Fabrikindustrie ihren Siegeszug durch die junge Republik   begann, war sie von vornherein in hohem Maße auf weibliche Arbeitskräfte angewiesen, weil den Männern fern vom Bannkreis der ragenden Schlote noch unbegrenzte Möglichkeiten" des Erwerbs und Empor­stiegs zu winken schienen. Die Entdeckung der Goldfelder in Kali­ fornien   hat aus dem gleichen Grunde das Vorwärtsdringen der Frau auf dem gesellschaftlichen Arbeitsmarkt erleichtert und be­schleunigt. Der Bürgerkrieg zwischen den Süd- und Nordstaaten wirkte in der nämlichen Richtung. Viele Zehntausende von Män­nern fielen oder kehrten als erwerbsunfähige Krüppel zurück; der Wohlstand zahlreicher Familien brach zusammen, und die unerbitt­liche Magenfrage" trieb Mütter und Töchter zum Erwerb; der nachfolgende treibhausmäßige Wirtschaftsaufschwung und sein un­vermeidliches Gegenstück, die Krise, verstärkten die Macht aller Faktoren, die in der kapitalistischen   Ordnung die Frau in wach­fender Zahl als Berufstätige neben den Mann stellen.

Nach der letzten Volkszählung von 1910 gab es in den Vereinigten Staaten   über acht Millionen weibliche Erwerbstätige, jede dritte Frau stand dank einer Berufsarbeit auf eigenen Füßen. Es gab kaum einen liberalen Beruf, zu dem sich die Amerikanerinnen nicht das Recht der Ausübung erobert hätten, in manchen Fällen fast fampflos, in anderen durch zähes, leidenschaftliches Ringen. Alle großen Freiheitsbestrebungen, die seit dem Ausgang des acht­zehnten Jahrhunderts die Herzen hoffnungsfreudig und fühn schlagen ließen, haben in den Vereinigten Staaten   Frauen erweckt, daß sie sich auf ihr Menschentum besannen und dafür kämpften. Wie hat die Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei allein schon den Sinn und die Seele der Amerikanerinnen geweitet und voller Sehnsucht auf das Ziel ihrer eigenen Befreiung gerichtet! Frauenmangel und Frauenverehrung haben sicherlich die Wider­stände gegen die Rechtsforderungen der Frauen gemindert, die wahre Siegerin im Kampfe für die Gleichstellung des weiblichen Geschlechts das ist meine Überzeugung ist jedoch die ar= beitende Frau, ist die kämpfende Frau. Schade, daß Pro­fessor Wilbrandt sie nicht mit der gleichen Anschaulichkeit stizziert hat wie das Lurusweibchen der oberen Zehntausend.

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Noch in einem anderen Urteil über die Entwicklung in den Ver­ einigten Staaten   bermag ich Professor Wilbrandt nicht beizu­pflichten. Er kennzeichnet treffend die verschiedenen, den Bedarf beeinflussenden Kulturschichten, die das geschichtliche Werden auf­einander gelagert hat, und die meines Dafürhaltens zum Teil auch noch nebeneinander und durcheinander verworfen anzutreffen sind. Da ist der Typus der Kolonistenwirtschaft, die sich vorläufig nur auf das Nötigste eingerichtet hat; eine Anpassungsvirtuosität wurde so gezüchtet, die alles nicht so genau nimmt, froh im Gefühl der er­rungenen Eristenz und Freiheit". Die Anspruchslosigkeit steigert sich dort bis zur Bedürfnislosigkeit. Über dieser untersten histo­rischen Schicht in der Seele der Amerikaner liegt die zweite: die sich einnistende Tradition gewisser Regeln, eine thrannische Ordnung deffen, was angeblich sein muß, ganz wie bei uns.".... Als dritte Schicht liegt darüber die Bedarfsgestaltung durch den Reichtum.... Nachdem von den Freuden und Ideen der Heimat so manches Kulturerbe unerreichbar wurde, so blieb nur Reichtum als Ziel des Strebens. Geld, möglichst viel Geld, um alles das haben zu können, was für Geld zu kaufen ist, das ist der fernwinkende Siegespreis für den Busineßman.... Eine jüngste Schicht der Bedarfsbildung lagert sich jetzt darüber. Neben der sprichwörtlichen Geschmacklofig­keit und Roheit, die auch jetzt noch häufig anzutreffen ist, erhebt sich auf den reichen Mitteln eine Renaissance der Kunst aller Länder. Aus monumentalen Bauwerken, wie Bibliotheken, Banken und Bahnhöfen( Bennsylvania- Railroad!) spricht Klassischer Stil in reinen Formen."

Gewiß: die kulturelle Entwicklungslinie läuft in der Richtung, wie der Tübinger   Gelehrte es aufzeigt. Jedoch hat sie meiner An­sicht nach gerade in der monumentalen Baukunst am wenigsten jene gipfelnde Höhe erreicht, auf der Professor Wilbrandt fie er­blickt. Zweifellos hat das freie Spiel der vom Kapitalismus ent­feffelten Produktivkräfte inmitten eines Riefenkontinents von schier