Nr. 7
Für unsere Mütter und Hausfrauen
psychische Beeinflussung des Pfleglings herbeigeführt werde. Nach seiner Ansicht genügt aber nicht die Unterbringung der Kinder in Einzelaußenpflege, um die Folgen dieses Mangels zu beheben. Er fordert, daß die Pflege auch so geartet sein müsse, daß sie bei dem Kinde wirklich eine Art innerer Befriedigung auslöst. Sie muß auf die Individualität desselben abgestimmt sein, was am ehesten natürlich da der Fall ist, wo die Mutter sich um ihr Kind bemüht." Diese Auffassung soll durch die Beobachtung in Bonn gestüßt werden.
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Im dortigen Säuglingsheim befinden sich nur Kinder, die in der Anstalt geboren sind, daselbst mit ihren Müttern ver= bleiben, von ihnen genährt und im allgemeinen auch solange ge= pflegt werden, bis die Mütter wieder in Stellung gehen. Im eigentlichen Säuglingsalter etwa bis zum neunten Monat entwickeln sich die Kinder nach den vorliegenden Erfahrungen sehr gut. Sie gedeihen recht gut in der Mehrzahl bei ausschließlicher Brusternährung, in geringerer Zahl bei Zwiemilchernährung, endlich in felteneren Fällen bei künstlicher Ernährung allein. Ihr Gesundheitszustand ist derart, daß Magen- und Darmerkrankungen fast unbekannt sind, und daß nur eine sehr geringe Zahl Todesfälle zu beklagen ist, die auf Rechnung von ganz unvermeidlichen Ursachen kommen, wie angeborene Syphilis und Tuberkulose, dazu noch Lungenentzündung. In dem eigentlichen Säuglingsalter, das Dr. Kaupe als die Zeit des mehr vegetativen Daseins bezeichnet, gibt das Befinden der Kinder nur selten Anlaß zur Klage. Sobald jedoch die Mutter das Heim verlassen hat, tritt ein Stillstand in der körperlichen und geistigen Entwicklung ein.
Der beobachtete Stillstand in der körperlichen Entwicklung ist ganz eigener Art. Er zeigt sich nämlich weniger im Gewicht, das meist weiterhin normal zuzunehmen pflegt, als im allgemeinen Wachstum, in der Entwicklung des Knochenbaus, in einer fast immer bald eintretenden Blutarmut nicht geringen Grades und vor allem in einer Unkenntnis im Gebrauch der Gliedmaßen, die dem Alter durchaus nicht entspricht. Troz streng durchgeführter natürlicher Ernährung und streng vermiedener Unterernährung, trot unbedingt zweckmäßiger fünstlicher Ernährung, wenn die Brustnahrung nicht möglich ist und in den späteren Monaten: trotz allem und anderer Vorzüge der Pflege noch müssen die Ärzte nur zu oft die erwähnte Blutarmut, aufgedunsenes, graues Aussehen und das Auftreten der englischen Krankheit feststellen. Den angegebenen körperlichen Symptomen gesellen sich in nicht geringerem Grade Erscheinungen auf seelischer Grundlage hinzu. Als Säuglinge hatten sich die Kinder geistig befriedigend entwickelt, normales Erkennungsvermögen für ihre Umgebung gezeigt, mit den Spielsachen sehr wohl umzugehen gewußt, Stimmen unterschieden; sie lachten viel und waren überhaupt heiteren Temperaments. In der Zeit, wo das mehr vegetative Dasein des Kindes in die Periode des sich regenden geistigen Lebens, des bewußten Willens, der zwedmäßigen Betätigung übergeht, bleiben dagegen die Pfleglinge ungeachtet guter Ernährung und Fürsorge zurüd, fie bleiben gewissermaßen bedeutend länger Säuglinge. Sie wissen mit komplizierteren Spielzeugen nichts anzufangen, lernen meist nicht vor dem 16. bis 18. Monat laufen, und die Sprache bleibt bei ihnen ungewöhnlich lang auf der untersten Stufe der Lautbildung. Wirkliche Worte oder gar Säße sprechen sie kaum vor 2/2 Jahren. Auffallend ist ferner, daß so viele Pfleglinge des Säuglingsheims ausgesprochen kaufaul sind und oft geradezu durch Hunger gezwungen werden müssen, zu gegebener Zeit feste Nahrung zu sich zu nehmen.
Das ist der moderne„ Hospitalismus" der Säuglingsheime. Birk und Dr. Kaupe betrachten ihn als eine Folge der zu geringen seelischen Beeinflussung des Kindes. In der Anstalt, sagen sie, fehle das Individuelle, das Persönliche, das Band, das sich zwischen Pflegerin der Mutter und Kind draußen bilde. Die Mutter oder Pflegerin, die nur ein Kind im Säuglingsalter zu versorgen hat- höchstens zwei Kleine, widmet sich ganz dem Pflegling, spielt, scherzt und lacht mit ihm in einem fort oder doch öfters längere Zeit. In der Anstalt aber hat eine Pflegerin mehrere Kinder zu versorgen, die Kinder müssen sehr viel auf dem Rücken liegen und der sehr notwendigen psychischen Anregung entbehren. Der Mangel an seelischer Befriedigung, an innerem Glücksempfinden, wirkt verstimmend auf den Magen und die Verdauung, daraus läßt sich wohl der Stillstand in der körperlichen Entwicklung erklären. Birk und Kaupe vertreten aus diesen Gründen die Anschauung, daß das Kind am besten bei der Mutter aufgehoben und die Einzelpflege von einem bestimmten Alter an 9 Monate der Anstaltspflege vorzuziehen sei.
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Die Frage ist mit den vorliegenden Beobachtungen freilich noch nicht genügend geklärt. Es liegen bis jetzt nur die Erfahrungen
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einzelner Ärzte vor. Dr. Kaupe glaubt auch, der moderne„ Hospitalismus" der Säuglingsheime könne überwunden werden, und zwar vor allem dadurch, daß mehr Pflegerinnen angestellt würden. Geschieht das, so werden allerdings die Kosten der Anstaltspflege für die Säuglinge erheblich wachsen, so daß man dafür Mutter und Kind zusammen unterhalten könnte! Jedenfalls verdienen die Untersuchungen von Birk und Kaupe besondere Beachtung. Man muß fordern, daß in allen Säuglingsheimen genaue Beobachtungen vorgenommen und systematisch zum Zwecke gründlicher Durcharbeitung fortgesetzt werden. Edmund Fischer .
Feuilleton
Seine Söhne.*
Bon Marim Gorki.
In heiliger Ruhe geht die Sonne auf, und von den Felsen der Insel steigt ein graublauer Nebel empor, gesättigt mit dem süßen Duft der goldgelben Blüte des Ginsters.
Inmitten einer dunklen, schläfrigen Wasserfläche hingelagert sieht die Insel unter der blauen Himmelskuppel einem Opferaltar des Sonnengottes ähnlich.
Soeben sind die Sterne erloschen, aber noch glänzt die hellfunkelnde Venus, einsam in den kalten Höhen, hinter einer durchsichtigen Schicht leichter Wölfchen verschwindend. Die rosig angehauchten Wolken flammen im Feuer des ersten Sonnenstrahles auf, und in dem ruhigen Schoß des Meeres spiegeln sie sich wie Perlmutter wider, die aus den blauen Tiefen emporgetaucht ist. Die Gräschen und die Blumenblättchen, beschwert mit silbernem Tau, strecken sich sehnsüchtig der Sonne entgegen. Helle Tautropfen hängen an den Stielen, füllen sich und fallen auf den Erdboden, der nach heißem Schlaf in Schweiß gebadet ist. Man möchte das leise Klingen beim Aufschlagen der Tropfen hören und ist traurig, daß man das nicht kann.
Die Vögel sind erwacht; sie flattern und singen im Laube der Olivenbäume, von unten her aber ertönen die tiefen Seufzer der See, die unter den Küffen der Sonnenstrahlen erwacht ist.
Und dennoch ist es still ringsum; die Menschen schlafen noch, und in der Frische des Morgens ist der Duft der Blüten und Gräser stärker vernehmbar als Töne und Geräusche.
Aus der Tür eines von Weinlaub überwucherten weißen Häuschens, das wie ein Boot aus grünen Wellen hervorlugt, tritt Ettore Cecco, ein Einsiedler mit langen Affenarmen, dem nackten Schädel eines Weisen und einem mit Runzeln und Falten bedeckten Antlitz in den sonnigen Morgen hinaus.
Langsam hebt er die braune haarige Hand zur Stirne empor, blickt lange auf den sich rosig färbenden Himmel und dann nach allen Seiten hin. Vor ihm ergießt sich eine Flut goldigen und smaragdenen Lichtes in allen Schattierungen über das graue, lilafarbene Gestein der Insel; rosafarbene, gelbe und rote Blüten leuchten überall hervor; das dunkle Antlitz des Alten zittert in gutmütigem Lächeln; er nickt zufrieden mit dem runden, schweren Kopfe. Als trüge er eine schwere Last auf dem Rücken, so steht er da, den Oberkörper ein wenig gebeugt, die Beine breit auseinandergestreckt. Ringsum aber kündigt sich immer lauter und froher der junge Tag an; heller glänzt das Grün der Weinberge, lauter zwitschern die Buchfinken und Zeisige, im Gesträuch der Brombeere, Waldrebe und Wolfsmilch schlagen Wachteln an, irgendwo pfeift die Amsel, elegant und sorglos wie ein Neapolitaner.
Der alte Cecco streckt die langen, müden Arme über den Kopf empor, dehnt und reckt sich, als wollte er nach unten fliegen, zum Meere, das wie Wein in einer Schale vor ihm ruht.
Dann sett er sich auf einen Stein vor der Tür, zieht eine Postfarte aus der Tasche, hält sie weit von sich, kneift die Augen zusammen und betrachtet die Schrift, lautlos die Lippen bewegend. Auf seinem großen, schon lange nicht rasierten, wie mit Silber bedeckten Gesicht ruht jetzt ein neues Lächeln, in dem sich Liebe, Trauer und Stolz eigenartig vereinen.
Auf dem Stück Pappe vor ihm sind zwei breitschultrige Burschen in blauer Farbe abgebildet. Sie sißen Schulter an Schulter nebeneinander und lächeln frohgemut, beide fraushaarig und großköpfig wie der alte Cecco. über ihnen steht in großer, deutlicher Druckschrift:
„ Arturo und Enrico Cecco, zwei edle Kämpfer für die Intereffen ihrer Klasse. Sie organisierten 25 000 Textilarbeiter, deren Wochenlohn 6 Dollar betrug, und wurden dafür ins Gefängnis gesperrt.. Ein Hoch den Kämpfern für die soziale Gerechtigkeit!" Aus Magim Gorki: Märchen der Wirklichkeit. Berlin , Verlag von J. Ladyschnikow.