12Für unsere Mütter und KausfrauenNr. 3aus Furcht, sie möchten sie mit nach Simla oder sonst irgendwohinin die fremde Welt nehmen wollen.Eines Tages, wenige Monate nachdem sie siebzehn Jahre alt ge-worden war, machte Lispeth einen Spaziergang. Das bedeutete beiihr nicht etwa, was es bei einer englischen Dame bedeutet— einund eine halbe Meile Gehens vielleicht, und dann zu Wagen heim.Sie legte zwischen zwanzig und dreißig Meilen auf ihren„Gesund-Heits-Spazicrgängen" zurück, die ganze Gegend weit herum ab-streifend. Diesmal kam sie bei vorgeschrittener Dämmerung zurückund stieg den halsbrecherischen Abhang nach Kotgarh mit einerschweren Last in den Armen herab. Die Frau Kaplan schlummerteeben im Besuchszimmer, als Lispeth keuchend und erschöpft mitihrer Bürde hereinkam. Sie legte sie auf das Sofa nieder und sagteeinfach:„Dies ist mein Mann. Ich fand ihn auf dem Wege nachVagi. Er hat sich verletzt. Wir wollen ihn pflegen, und wenn er gc-sund ist, soll uns Ihr Mann trauen."Dies war die erste Erwähnung, die Lispeth von ihren Heirats-absichten machte, und die Frau des Kaplans war über alle Maßenentsetzt. Indessen, der Mann aus dem Sofa bedurfte vor allem desBeistandes. Es war ein junger Engländer, und sein Kopf war bisauf den Knochen von etwas Kantigem aufgerissen. Lispeth sagte,sie habe ihn unter der Felsspitze gefunden und habe ihn dann her-gebracht. Er atmete unregelmäßig und war bewußtlos.Man brachte ihn zu Bett, und der Kaplan, der etwas medizinischeKenntnisse besaß, veranlaßte das Nötige, während Lispeth draußenan der Tür wartete für den Fall, daß man ihrer Hilfe bedürfe.Sie erklärte dem Kaplan, daß dies der Mann sei, den sie zu hei-raten gedenke', und der Kaplan und seine Frau hielten ihr einestrenge Strafpredigt über das Ungebührliche ihres Betragens. Lis-peth hörte ruhig zu und wiederholte dann ihre früheren Worte. Esbedarf eben einer sehr dicken Schichte von Christentum, um gewisseursprüngliche östliche Instinkte zu übertünchen, wie zum Beispieldas Verlieben auf den ersten Blick. Da Lispeth den Mann ihresHerzens gefunden hatte, so sah sie nicht ein, warum sie es der-schweigen sollte. Noch auch war sie im geringsten geneigt, sich weg-schicken zu lassen. Sie wollten diesen Engländer pflegen, bis er wohlgenug sei, um sie zu heiraten. Das war ihr kleines Programm.Nach vierzehntägigem Fieber kain der Engländer wieder zuvollem Bewußtsein und dankte dem Kaplan und seiner Frau undLispeth— besonders Lispeth— für ihre Güte. Er erzählte, er seiAsienrciscnder— der„Weltbummler" war damals noch nicht er-sundcn— und sei von Debra Dun gekommen, um in den SinilaerBergen Pflanzen und Schmetterlinge zu sammeln. Niemand inSimla wußte daher etwas von seiner Anwesenheit. Er glaubte, ermüsse den Fels hinuntergestürzt sein, als er ein bei einem verfaultenBaumstamm wachsendes Farnkraut abschneiden wollte, und seineKulis hätten dann mit seinem Gepäck das Weite gesucht. Sobalder einigermaßen zu Kräften gekommen sei, wolle er nach Simlazurückkehren. Nach Bergsteigen trug er kein Verlangen mehr.Er erholte sich allmählich und schien es mit dem Fortgehen nichtsehr eilig zu haben. Lispeth zeigte sich gänzlich abgeneigt, den Wei-sungen und Ermahnungen des Kaplans oder seiner Frau zu folgen;so entschloß sich denn diese, mit dem Engländer zu sprechen und er-zählte ihm, wie es um Lispeths Herz stünde. Er lachte herzlich undsagte, das sei ja sehr hübsch und romantisch, ein wahres Himalaja-Idyll; aber da er mit einem Mädchen zu Hause verlobt sei, so denkeer, es werde nichts passieren. Selbstverständlich werde er sich mitgebotener Zurückhaltung benehmen. Das tat er denn auch. Gleich-wohl fand er es sehr angenehm, mit Lispeth zu plaudern, mit ihrspazieren zu gehen und ihr hübsche Dinge zu sagen und ihr Kose-namen zu geben, während er sich erholte, um seine Reise fortsetzenzu können. Es bedeutete nichts für ihn und bedeutete alles in derWelt für Lispeth. Sie war sehr glücklich in diesen zwei Wochen,weil sie einen Mann für ihr Herz gefunden hatte.Da sie eine Wilde von Geburt war, so bemühte sie sich nicht, ihreGefühle zu verbergen, und der Engländer war sehr belustigt. Alser abreiste, ging Lispeth mit ihm den Berg hinan bis nach Rar-kunda, sehr unglücklich und sehr niedergeschlagen. Die Frau desKaplans, als gute Christin und in großer Furcht vor Skandal undheftigen Szenen, hatte den Engländer gebeten— Lispeth war nunvollends unlenkbar geworden—, er möge ihr sagen, er werde zu-rückkehven, um sie zu heiraten.„Sie ist ja noch ein Kind und, ichfürchte leider, im Herzen noch eine Heidin," sagte die Frau Kaplan.So ging denn der Engländer die zwölf Meilen bergan, den Armum Lispeth geschlungen und ihr immerfort versichernd, daß er zu-rückkommen und sie. heiraten werde. Und Lispeth ließ sich das Ver-sprechen immer aufs neue wiederholen. Endlich stand sie weinendauf der Höhe von Narkunda und blickte ihm nach, bis er ihrenAugen entschwunden war.Dann trocknete sie ihre Tränen, kehrte nach Kotgarh zurück undsagte zu der Frau des Kaplans:„Er wird zurückkommen und michheiraten; er ist zu seinen Leuten gegangen, um es ihnen mitzu-teilen." Und des Kaplans Frau tröstete Lispeth und sagte:„Erwird zurückkommen." Nach Verlauf von zwei Monaten wurde Lis-peth ungeduldig, und man erklärte ihr, daß der Engländer über dasMeer nach England gefahren sei. Sie hatte ein Elementarbuch derGeographie gelesen und wußte, wo England liege, aber sie hattenatürlich keinen Begriff davon, was das Weltmeer sei, denn siewar eine Tochter der Berge. Im Hause befand sich ein altes Spiel-zeug, eine zusammensetzbare Weltkarte, mit der Lispeth als Kindgespielt hatte. Die grub sie wieder aus und setzte sie des Abendszusammen und weinte darüber und trachtete hevauszufindc», woihr Engländer sei. Da sie keine Vorstellung von Entfernungen undvon Dampfschiffen hatte, waren ihre Begriffe etwas irrig. Es hätteaber keinen Unterschied gemacht, wären sie auch richtig gewesen;denn der Engländer dachte nicht im entferntesten daran, zurück-zukehren und eine Hochländerin zu heiraten. Er hatte ihrer ver-gessen schon um die Zeit, da er in Assam Schmetterlinge sing.Später schrieb er ein Buch über Indien. Lispeths Name kam darinnicht vor.Nach Ablauf von drei Monaten niachte Lispeth täglich einePilgerfahrt nach Narkunda, um zu sehen, ob nicht ihr Engländerdie Straße entlang käme. Das zerstreute und tröstete sie ein wenig,und die Frau des Kaplans, als sie sie heiterer sah, dachte, sie be-ginne nun endlich„ihre barbarische und höchst unschickliche Torheit"zu überwinden. Aber gar bald verloren auch dies« Gänge ihre be-sänftigende Wirkung, und Lispeth wurde die Beute einer wildenErregung. Die Frau des Kaplans hielt nun die Zeit für gekommen,um dem Mädchen den wahren Stand der Dinge zu entdecken—daß der Engländer ihr nur Versprechungen gemacht habe, um siezu beruhigen— daß er es nie ernst gemeint habe— und daß es„höchst tadelnswert und unpassend" von Lispeth sei, an eine Heiratmit einem Engländer zu denken, der aus einem viel besseren Teigegemacht und der obendrein mit einem Mädchen seines Volks ver-lobt sei. Lispeth erwiderte, dies alles sei offenbar unmöglich, denner habe ihr ja gesagt, daß er sie liebe, und sie selbst, die FrauKaplan, habe ihr doch versichert, daß der Engländer wieder kommenwerde.„Wie kann das unwahr sein, was Sie und er gesagt haben?"fragte Lispeth.„Wir haben eS nur als Ausrede gebraucht, um dich zu beruhigen,Kind," erwiderte die Frau Kaplan.„Dann habt ihr mir eine Lüge gesagt I Sie und er!"Die Frau des Kaplans senkte das Haupt und schwieg. AuchLispeth blieb eine Weile stumm; dann ging sie weg, talabwärts,und kam in den Kleidern einer Hochländerin zurück— ungemeinschmutzig, aber ohne Nasen- und Ohrringe. Sie hatte ihr Haar ineinen mit schwarzen Fäden durchzogenen Zopf geflochten, wie dieMädchen ihres Volkes.„Ich kehre zu den Meinigen zurück," sagte sie.„Ihr habt Lispethgetötet. Es ist nur mehr die Tochter der alten Jadeh übrig, dasKind eines Pahari und Dienerin der Tarka Devi. Ihr seid alleLügner, ihr Engländer."Bis die Frau des Kaplans sich von dem Entsetzen über die An-kündigung erholt hatte, daß Lispeth sich zu den Göttern ihrer Väterzurückbekehrt habe, war das Mädchen fortgegangen; und sie kehrtenie wieder.Sie warf sich mit Heftigkeit in die Sitten ihres unsauberenVolkes zurück, als wollte sie jeden Rest des Lebens, das sie ebenverlassen hatte, so rasch wie möglich von sich wegwischen. Nicht langedanach heiratete sie«inen Holzfäller, der sie, nach Art der Paharis,schlug, und ihre Schönheit verwelkte rasch„ES gibt keine Logik, nach der man die Denkart eines Heiden er-klären oder berechnen könnte," sagte die Frau des Kaplans,„undich glaube, daß Lispeth in ihrem Innern stets ein« Heidin gebliebenist." In Anbetracht, daß das Mädchen in dem reifen Alter vonfünf Wochen in den Schoß der anglikanischen Kirche aufgenommenworden war, stellte sich die Frau Kaplan mit dieser Behauptungnicht gerade ein ehrenvolles Zeugnis aus.Lispeth war sehr alt, als sie starb. Sie beherrschte ihr Leben langdas Englische vollkommen, und wenn sie genügend betrunken war,konnte man sie zuweilen dahin bringen, daß sie die Geschichte ihrerersten Liebe erzählte. Man konnte sich dann kaum vorstellen, daßdieses triefäugige, runzelige Weib, diese zerlumpte Hexe einst die„Lispeth der Kotgarh-Mission" gewesen war.BerannvorrUch für dt« R«dakrton: grau Klara ZelNn(Zündet), Wtlhelmshöhe,Post Degerloch bet Stuttgart.Druck und«erlag von Z. H. w. Die» Rachf.».m.b.H. w Stuttgart.