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Für unsere Mütter und Hausfrauen

aus. Gesentten Hauptes geht er in ihrer Mitte und steigt in den Schlitten. Neben ihn und ihm gegenüber setzen sich die Soldaten. Die Hunde springen wütend an dem Schlitten herauf. Da fallen einige Revolverschüsse, und getroffen wälzen sich die Tiere mit flägs lichem Gewinsel in dem Schnee, den ihr Blut färbt. Los!" fom­mandiert der Offizier, die Pferde ziehen an, und der Schlitten gleitet aus dem Hofe. Wieder ertönt Schellengeläut, das sich schnell entfernt und allmählich in der Ferne im Walde zwischen den schneebedeckten hohen Tannen und Fichten erstirbt. Der Bauern­sohn fährt seinem Schicksal entgegen....

Inzwischen sind die Frauen aus der Badestube zurückgekehrt. Sie haben das Hundegebell und das Schellengeläute vernommen, und die Revolverschüsse jagten ihnen Entsetzen ein. Die stummen Mienen der Männer erhöhen ihre Angste. Die alte, tränkliche Bäuerin fragt mit angstvoller Stimme:" Wo ist Karl?" Der Bauer antwortet:" Sie haben ihn wieder geholt." Die halbblinde Frau schreit auf und streckt ihre Hände aus, als wenn sie ihr Kind zurückhalten wollte. Die Frauen müssen sie hinwegführen. Stumm verzehren die Knechte und Mägde ihre Mahlzeit, rasch wird abge­räumt, und bald liegt der Hof in tiefem Schweigen.

Unterdessen fährt der Bauernsohn immer weiter weg von seiner Heimat, dem Gefängnis entgegen. Die Soldaten fluchen, daß sie wegen solchem Gesindel nicht einmal am heiligen Abend Ruhe haben. Der Bauernsohn achtet nicht darauf. Ein namenloser Schmerz schnürt ihm die Brust zusammen. Voll Grauen sucht er sich vorzustellen, was ihm bevorsteht. Mühevoll ist sein Leben ge­wesen, reich an Arbeit, arm an Freuden. Jahraus jahrein in Frost und Hitze, im Regen und Schnee hat er gearbeitet. Aber während er das Feld mit seinem Schweiß träntte, beseelte die Hoffnung auf bessere Zeiten sein Schaffen. Schon glaubte er aufatmen zu können, die Schulden, die auf dem Besitz lasteten, waren fast getilgt, bald würde ihm der Vater den Hof überlassen, und er könnte heiraten. Und all seine Hoffnungen sollten jetzt vernichtet sein. Und warum? Als die Freiheitswelle über das ganze Land brauste, hatte sie den stillen Jüngling erfaßt, in dem ein starkes Gerechtigkeitsgefühl lebte. Und jetzt nahm die Regierung dafür ihre Rache.

Vorwärts faufte der Schlitten durch Felder und Wälder. Der Schnee knirschte unter seinen Kufen. Dann und wann erscholl Hundegebell aus einem Hofe in der Ferne. Ein leises, eisiges Lüft­chen umfächelte die Gesichter der Fahrenden. Kalt und teilnahm los funkelten die Sterne hoch am Himmel. Auch an diesem Abend hatte man in den Kirchen gepredigt und gesungen: Ehre sei Gott  in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohl­gefallen!" Auch an diesem Abend waren Menschen von diesen Worten ergriffen worden, um dann ergriffen und gedankenlos zu Bette zu gehen. Väterchen Zar hatte gewiß in tiefer Andacht die Worte vom Frieden und Wohlgefallen gehört und war von ihnen gerührt worden....

Der Bauernsohn im Schlitten zwischen den Soldaten dachte an das alles. Er dachte auch an seine Braut. Heut suhr er zum dritten­mal ins Gefängnis. Die beiden ersten Male war er bald wieder in Freiheit gekommen. Wie aber wird es ihm jetzt gehen? Im Frühling, wenn die Bäume blühen, hätte die Hochzeit sein sollen. Vorher sollte aber erst ein neues Haus gebaut werden, das Material dazu war schon angefahren. Früher war es so herrlich, darüber nachzudenken, jetzt war es qualvoll. Was würde die Zukunft bringen?

Immer weiter sauste der Schlitten durch Felder und Wälder, der Kreisstadt zu. Und der junge Bauer erinnerte sich, wie er vor vielen Jahren diesen Weg suhr, wenn er seinen Bruder auf die Schule nach der Stadt brachte. Wo war jetzt sein Bruder? Er hatte nach dem Ausland flüchten müssen. Es sollte ihn dort nicht gut gehen. Er litt vielleicht Hunger und Not? Doch er war frei! Er war nicht in die Hände der Henker gefallen. Was erwartete aber ihn selbst? Wird er noch einmal als freier Mann seine Mutter, seine Geliebte und die Felder und Wiesen seines Hoses schauen?

Die Braut des Bauernsohnes hatte in dieser Nacht einen schweren Traum. Am Arme ihres Bräutigams ging sie zum Altar. Die Kirche war voller Menschen, die Orgel spielte, und die Leute sangen. Plötzlich drangen Soldaten mit gezogenen Säbeln durch die Seitentür in die Kirche ein, stürmten auf ihren Bräutigam zu und stießen ihm die Säbel durch die Brust.... Im falten Schweiße gebadet erwachte sie, der Weihnachtsmorgen brachte ihr keinen Frieden.... In derselben Nacht war die Mutter des jungen Bauern mit einem Verzweiflungsschrei aufgefahren. Ihr hatte geträumt, an einem Hügel am Walde auf dem anderen Ufer des Flusses sei aus zwei hohen Fichten ein Galgen errichtet, und daran hinge ihr Sohn. Es war ein falter flarer Wintermorgen mit flingendem Frost, und mit lautem freudigem Geträchze umkreisten die Raben den toten Körper....

Nr. 6

Am. Weihnachtsmorgen, als die Glocken läuteten und in den Kirchen der Friedensfürst gepriesen wurde, saß der Bauernsohn in seiner Gefängniszelle. Sobald sich dort hinter ihm die Tür ge­schlossen hatte, war er, ermüdet von der langen Fahrt, auf dem harten Lager in Schlaf versunken. Jetzt hodte er auf dem Lager und betrachtete die Zelle. Sie war eng, mit kahlen grauen Wänden und einem kleinen vergitterten Fenster hoch über dem Boden. Nur wenig Licht drang zwischen den Stäben herein, auch am Tage herrschte Dämmerung in der Zelle. Die Decke und die Wände waren mit grauem Staub überzogen, der sich seit Jahren ange­sammelt hatte. Der Boden war mit Ziegelsteinen gepflastert. Außer der Pritsche an der einen Wand war in der Zelle noch ein Stuhl und ein kleiner Tisch mit einem Wasserkrug darauf und einem Neuen Testament   in lettischer Sprache. Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit und Verlassenheit überwältigte den Gefangenen.

Und endlos schlichen die Tage und Nächte in der Zelle dahin, grau und schwarz. Sie bildeten eine Riesenschlange, welche den Gefangenen drückte und marterte. Den überfiel in den langen schwarzen Winternächten oft der Gedanke, seinen Kopf an den Wänden der Zelle zu zerschmettern. Die Tage brachten nur Hunger, Kälte und den Hohn der Schergen. Der Kopf des Gefangenen wurde wie mit Blei gefüllt, seine Hände und Füße gefühllos. Er kniff sich in die Beine, fühlte aber keinen Schmerz. Sein ganzer Körper war wie gelähmt. Sollte er denn ewig in diesem Loche bleiben? Das Schlimmste für den jungen Bauern war die Untätig­feit. Von Kind auf war er harte Arbeit in freier Luft gewöhnt. Und jetzt mußte er Tage, Wochen, Monate untätig in dieser engen Höhle liegen. Dem Gefangenen schien es, daß hier die Zeit stillstehe.

Der Winter verging mit klingendem Frost und klaren Tagen, mit Schneestürmen und finsteren Nächten. Wie herrlich war es früher, wenn der Bauernsohn an klaren Wintertagen zusammen mit anderen im Walde arbeitete! Die Sonne beleuchtete golden die schlanken Stämme der Fichten und Tannen, in den Zweigen schimmerte der weiße Schnee. Der Himmel war blau und hoch, falt und erfrischend die Luft. Lustig erklangen die Arthiebe im stillen Walde. Etwas abseits vom Arbeitsplatze glimmte ein Feuer. Wollte man ausruhen und sich mit Speise stärken, so holte man trockene Zweige und häufte sie auf die Glut; lustig schlugen die Flammen heraus, eine wohlige Wärme verbreitend. Am Abend fehrte man müde nach Hause zurück und genoß die Ruhe des Abends und den Schlaf der Nacht. Jetzt aber sah der junge Bauer nur die entsetzliche Zelle, keine Sonne und nur wenig Licht. Von den Korridoren hörte er Scheltworte und Flüche der Gefängniswärter, und von Zeit zu Zeit sah er ihre fühllosen Gesichter am Guckloch in der Tür....

Und dann kam der Frühling. Draußen weht eine linde Luft, der Schnee schmilzt, und nachts hört es der Gefangene von den Dächern tropfen. Wie belebend hatte das in der Freiheit gellungen, aber jetzt war es qualvoll, das ununterbrochene Tropfen zu hören. Nun müssen die Sträucher bald grünen und die Acker bestellt werden. Und der Frühling schritt weiter vorwärts. Jetzt wird draußen wohl alles zu neuem Leben erwacht sein. Auf dem Acker wird gearbeitet. Die Wintersaat schießt in die Höhe. Der Wald erklingt vom Jubelchor der Vögel, die Wiesen bedecken sich mit Blumen. Im Fluß und in den Teichen spielen die Fische. Die Nachtigall schlägt in den Hecken, und die Abende sind laut. Der Bauernsohn meinte, er müßte wahnsinnig werden....

Darauf kam der Sommer mit heißen Tagen und warmen Nächten, mit Senfentlang und Heuduft, mit Erdbeeren und Himbeeren. Auf den Wiesen und in den Gärten summen um die Blüten die Bienen und die Hummeln von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Der Hochsommer folgte mit Roggendust und sternklaren Nächten; der Herbst mit seinem Reichtum.... Dann war es wieder Winter und Weihnachten....

Wer dürfte es wagen, von der Pein zu sprechen, die wie ein Schwert das Mutterherz in diesem Jahre durchbohrte?

Dem Bauernsohn schien dieses eine Jahr die Ewigkeit selbst, voll Marter und Qual.... Er wurde mager und bleich, seine fahlen Wangen fielen ein, sein Haar ergraute, seine Gestalt fant zusammen. In seinem Blicke aber blitzte es manchmal auf wie von sicherer Hoffnung. Mochte sein Schicksal sich erfüllen! Hunderte litten wie er, und Tausende kämpften weiter. Jenseits der Kerker. mauern ging die Welt ihren Gang. Fühllos, aber auch unauf­haltsam. Ein Frühling mußte kommen, der die Blöcke des Eis­mitten im palastes an der Newa   sprengte. Schon hörte man Winter

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geheimnisvoll in den Tiefen das Knirschen des Eises. Berantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Betfin( Bundel), Wilhelmhöhe. Bost Degerloch bet Stuttgart  . Druck und Verlag von Paul Singer in Stuttgart  .