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als Regierungskommissar kann man in folgende Worte zusammenfassen: Er gab sich alle Mühe, in Frankfurt ächt preußisch und in Berlin und Erfurt ächt deutsch zu reden. Daß von solchem verworrenen Stand- punkte aus schließlich auch nur hohle, verworrene Phrasen herauskamen, ist wohl leicht verständlich, aber die Phrasen imponirten dem seichten Gothaismus trotzdem. Von seiner Kaiseridee kam übrigens Radowitz früher zurück, als Dahlmann, und als auch die Norddeutsche Union scheiterte, da suchte er für Preußen das„möglichst Erreichbare" in einigen Militärkonven- tionen und das Aufgehen der Fürstenthümer Hohenzollern — und fand auch das damals nicht einmal. Wie alle Konservativen der vormärzlichen Zeit„machte" Radowitz auch in der sozialen Frage. Im Jahre 1846 gab er ein Schriftchen heraus:„Gespräche aus der Gegenwart über Kirche und Staat", in welchem er eine Arbeiterorganisation empfiehlt, ein unauflösliches organisches Verhältniß zwischen Arbeitern und Arbeitgebern; unter Oberaufsicht des Staates sollen die Arbeiter gezwungen werden, stets bei demselben„Brotherrn", Gutsbesitzer oder Fabrikanten auszuharren. Und keck behauptete Radowitz, daß dann allerdings ein kleines Stück Leibeigenschast zurückgerufen werde, daß aber das städtische und länd- liche Proletariat, daß Roth und Elend verschwinde. Adam Smith hatte Radowitz keinesfalls gelesen, als er solche Behaptungen aufstellte. Aber was thut das— stellen doch auch jetzt noch„große Staatsmänner" selbst in Parlamenten über die soziale Frage und den Sozialismus Behauptungen auf, ebenso keck wie es Radowitz that, die gleichfalls von der tollsten Unwissenheit in sozialen Dingen strotzen. Daß Radowitz mit seiner„Arbeiterorganisation" kontrerevolutio- näreu Zwecken dienen wollte, leuchtet ja ein; deshalb hatten seine ab- surden Behauptungen wenigstens einen Zweck, und er that sich viel zugute mit seinen„sozialistischen " Anschauungen; daß aber moderne, konservative Staatsmänner, wie oben angedeutet, den Sozialismus blos dem Liberalismus zuliebe schmähen, das wäre einem Radowitz, einem Stahl, einem Gerlach ganz unverständlich gewesen.„Andere Zeiten, andere Sitten"— Radowitz würde heute vielleicht auch nicht mehr das rothe Gespenst an die Wand malen, aus Angst, daß es Fleisch und Blut gewänne. H.
DaS erste Sturzbad.(Bild Seite 88.) Der Worte braucht's nicht viel bei diesem Blick in das Jugendleben einer besonders beliebten Gattung unter unseren gefiederten Haus- oder besser Hofgenossen. Das Element, in welchem die kaum aus dem Ei gekrochenen Entlein sich ihr ganzes Leben hindurch mit Vorliebe bewegen werden und in dem sie die Schwimmhäute ihrer winzigen Psötchen bereits für die Bethätigung festigen, bricht über sie von oben her urplötzlich und gewaltsam herein. Trotz des ersten Schreckens der Ueberraschung weichen sie nicht; sie mögen bald gefühlt haben, daß es keine feindliche Gewalt ist, mit der sie in eine allerdings etwas heftige und die jungen Kräfte aus eine ziemlich harte Probe setzende Berührung gekommen sind. Die merk- würdige Rinne, aus der zum erstenmal Wasser über sie her stürzte, werden sie nicht aus dem Gedächtnisse verlieren; gar oft wird man sie an dem Platze sehen, um, von der Erfahrung gegen den Schrecken gefeit, das mit vollem Behagen über sich ergehen zu lassen, was sie jetzt beinahe zu Boden geschmettert hätte. G.
Aus der guten, alten Zeit noch ein Kapitel. In der Augs- burger Chronik steht Folgendes zu lesen: Im Jahre 1388, in dem Kriege zwischen den schwäbischen Städten und dem Adel, haben die Augsburger zum erstenmal die Feuerröhre gebraucht. Im Jahre 1373 haben die päpstlichen Ketzermeister angefangen ini obern Deutschland hart zu verfolgen. Sie haben auch in Augsburg 240, so mehrcntheils Weber gewesen, gefänglich eingezogen und die vornehmsten derselben, weil sie nicht widerrufen wollten, am St. Margarethentage zum Feuer verurtheilt. Im Jahre 1405 wurde zum erstenmal die geweihte Hostie in Augsburg in einer Monstranz umhergetragen. Diese Ceremonie ist zuerst in Augsburg ausgekommen. Bei den gräulichen Widerwärtig- leiten sowohl der römischen Päpste, als unserer Bischöse nahm der Hussischen, als der Willefittschen verwandte, Lehre überhand und ärgerten sich nicht wenig Bürger ob der Geistlichen verruchten Leben, bevor dieweil die Domherren selbst mit Zanken und Balgen einander stets in den Haaren lagen. Denn es so ein wildes Leben bei ihnen worden, daß, so oft sie ihre Konsistoria in der gewöhnlichen Kirche hielten, sie dann nicht mehr mit einem leinenen Chorrock über den wollenen Rock angethan, sondern unter den gefütterten Röcken mit Panzer gewappnet waren. Sie pflegten auch keine Gebetbücher und Paternoster mehr in den Händen, sondern dafür ihre Dolche und Wehren an der Seite zu tragen und tribulirten einander selber als tolle, rasende Wölfe. Son- derlich aber im Jahre des Herrn 1417, da sie kaum wiederum in die Stadt gekommen waren uud ihre Kirche von neuem geweihet, hatten sie den Kirchenrath versammelt und am Montage nach St. Bartholomäi Tag eine so gräuliche Berathschlagung gehalten, daß sie von Worten zum Schlagen gekommen. In solchem Lermen sind an der Domkirche und deren Kreuzgang über vierzig bloße Wehren gesehen und der Dom- i dechant nebst mehreren Domherren verwundet worden. Und so das'
Volk nicht hinzugelaufen wäre und mit Geschrei die Kämpsenden er- schreckt und der Bürgermeister bei höchster Strafe nicht Frieden geboten hätte, so würde ein unmenschlich Würgen daraus geworden sein.— Im Jahr 1413. Es wurde der Kaiser Sigismundus, als er hier zur Er- götzung nach seiner vielgehabten Mühe und Arbeit lusttger Kurzweil pflegte, von unfern Geschlechtern zu einem Tanz geladen, welchen er denn auch, wie er denn ein fteundlicher und lustiger Fürst gewesen, mit großer Demuth besuchet, und damit er seine Höflichkeit desto mehr erwiese, einer jeden Frau(deren 50, wie die Chroniken vermelden, ge- wesen) ein güldnes Ringlein, so.er mit seiner eignen Hand an den Finger gesteckt, gegeben.— Weiter kamen auch in diesem Jahr den ersten Tag des Wintermonats in diese Stadt unbekannte und schwarze Landfahrer, ungefähr ihrer fünfzig, die auch einen großen Haufen häß- licher Weiber und ungestalteter Kinder mit sich führen, über welche zween Herzoge, und, wie sie sagten, etliche Grafen herrschten. Und gaben sie vor, sie wären arme verjagte Leute aus dem kleinen Egypten und konnten von künftigen Dingen weissagen, wie man aber die Sachen beim Lichte besehen, hat sich befunden: daß es lauter Schelmen und Galgenschwengel gewesen, welche wir jetziger Zeit Zigeuner nennen.— Im Jahr 1420 regierte allhie, wie im ganzen Schwabenland, die leidige Pest und starben allein in dieser Stadt 16,000 Personen.— Im Jahre 1435 ist ein Dekret mit des Kaisers Bewilligung und Gut- achten gemacht worden, daß hinfür den Juden neben den Christen im Gericht zu sitzen, und ihre Stimme, wie bisher geschehen, zu geben nicht mehr gestattet seyn sollte: desgleichen auch, daß sie nicht mehr in ihren Synagogen von unfern Bürgern allhie beklagt, sondern ebenso wie andre Bürger und Hintersaßen auf dem Rathhause vor dem Stadt- vogt und seinen Beisitzern verhört werden sollen. Denn vor diesem, so ein Bürger mit einem hiesigen Juden eine Klagsache hatte, pflegten solche Handlung ihre Rabbi neben dem Stadtvogt und einer gleichen Anzahl Beisitzern von Christen und Juden in ihrer Schul zu entscheiden. Anders wurd' es aber gehalten, wenn ein Jud gegen einen Christen einen Rechtshandel führte.
Das Chloroform. Es dürfte für viele intercflant sein, etwas Näheres über das in Operationsfällen zur Anwendung gelangende Chloroform zu erfahren. Was die Darstellung desselben betrifft, so beruht dieselbe auf einer Einwirkung von Chlor, welches so reichlich in unserm Kochsalz enthalten ist, aus Sumpfgas . Das letztere bildet sich, wenn organische Substanzen bei Lustabschluß sich langsam zersetzen. Aus diesem Grunde sehen wir dasselbe in Steinkohlengruben, Sümpfen sich vorzugsweise entwickeln. Die Herstellung des Chloroforms im Großen geschieht gewöhnlich dadurch, daß man Weingeist(Aethylalkohol) mit einer Lösung von Chlorkalk desttllirt. Es ist eine farblose, beweg- liche Flüssigkeit mit eigenthümlichcm Geruch, welche bei 62 Grad siedet. Erst 16 Jahre nach seiner Erfindung wurde das Chloroform zum erstenmale erprobt, und zwar von Professor Simpson in Edinburgh im Jahre 1847. Ja, fast wäre es durch einen Zufall und vielleicht für immer der großen Mehrzahl der Menschen unbekannt geblieben. Prof. Simpson wollte einst, von der Trefflichkeit des Mittels bereits überzeugt, dessen Zulässigkeit auch bei größeren Operationen seinen Freunden begreiflich machen, jedoch während er zur Anwendung schreiten wollte, mahnte ihn ein Blick aus die Kranke, aus irgendeinem rein äußerlichen Grunde davon abzustehen. Er vollzog deshalb die Opera- tion ohne jegliche Betäubung, und fast war er zu Ende, als die Kranke plötzlich unruhig wurde und nach wenigen Minuten verschied. Hätte nun Simpson nur einige Minuten vorher Chloroform angewendet, dann hätte man sicherlich die Ursache des plötzlichen Todes in der Wirkung desselben gesucht, und mindestens auf lange Jahre hinaus wäre die so segensreiche Wirkung des Chloroforms den Menschen unbekannt geblieben. Nach den verschiedensten glänzenden Erfolgen jedoch, welche Simpson damit erzielte, fand es allmählich überall Eingang; doch hatte man sich in der ersten Ueberraschung durch die großartigen Wirkungen so blenden lassen, daß man an die Gefährlichkeit(man denke nur, aus welchen giftigen Stoffen es besteht) desselben garnicht dachte, und so kam es, daß auf einmal von einer Reihe von Todesfällen bei dessen Anwendung berichtet wurde. Jedoch im Laufe der Zeit hat man sich genauer mit den möglichen Gefahren bekannt gemacht und man hat Mischungen mit anderen Substanzen, besonders mit Aether, welche Gefahrlosigkeit gewährleisteten, vorgenommen. Man kann deshalb sagen, daß das Chloroformiren unter Leitung eines geschickten Arztes nicht mehr gefährlich werden kann, da man ja bei etwa eintretenden un- günstigen Symptomen mit dem Einathmenlassen beliebig aufhören und wieder beginnen lassen kann. Aus welche Weise nun das Chloroform, durch die Lungen eingeathmet, Bewußtlosigkeit und Anästhesie(Gefühl- losigkeit) hervorrufen könne, darüber ist man noch verschiedener Ansicht. Man glaubte nach Befunden von Blutsarbstoff im Urin nach den Ope- rationen, sowie auf Grund von Versuchen an Thieren sich dahin aus- sprechen zu müssen, daß die rothen Blutkörperchen im Blute zersetzt würden und infolge davon die Ernährung der Nerven leide. Andere dagegen wollen die nächste Ursache der Betäubung darin finden, daß die nach bestimmten physikalischen Gesetzen in's Blut übertretenden Kohlendämpse als solche direkt nur auf gewisse nervöse Centralapparate lähmend wirken. Jedenfalls ist es nur eine äußerst flüchtige Berüh- rung der Dämpfe mit den Nervencentren, da wir ja selbst nach der