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Die Reaktion auf der münchener Naturforscherversammlung
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und die Abstammungslehre in der Volksschule.
( Schluß.)
sind. Um so befremdender erscheint die Haltung Virchow's zu dieser eminent wichtigen Frage. Das Votum des bejahrten Naturforschers auf der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte, am 22. September 1877, volle 18 Jahre nachdem die Wahrheit der Abstammungslehre ihren unwiderstehlichen Triumphzug durch die ganze civilisirte Welt angetreten hat, jenes Votum Virchow's bleibt uns ein Räthsel.
Virchow warnt davor, die Abstammungslehre in die Volksschule einzuführen.
Virchow erinnert gleich im Anfang seiner Rede an die kritische| tanden, die bereits durch die Praxis zu drei Viertheilen gelöst Situation in Frankreich und spricht ernste Befürchtungen aus, die ohne Zweifel von den versammelten deutschen Naturforschern getheilt werden, da wir wissen, wie oft die wissensfeindliche Kirche durch Vermittlung des Staates der freien Forschung Fesseln anzulegen wußte. Der Syllabus und die Encyclica sind Kriegserklärungen an die Wissenschaft, und dieselbe Macht, welche hinter ihnen steht, dirigirt gegenwärtig hinter den Coulissen des franzö sischen Staatslebens. Wenn aber Frankreich leidet, so bleibt dies nicht ohne Rückschlag auf die Nachbarländer. Redner preist uns, die wir in Deutschland , ja in einer vorwiegend katholischen Stadt hier tagen, glücklich, dieses Maß freier Forschung und freien Redens zu haben, jenes Maß, welches nichts weiter mehr zu wünschen übrig läßt. Wir anerkennen dankbar, daß sich die Wissen schaft in Deutschland , Desterreich, der Schweiz und in anderen Nachbarländern Germaniens während 50 Jahren ihre volle Freiheit erobert hat. Wir Jüngeren hören mit Staunen, daß der Vater unserer Wanderversammlungen deutscher Naturforscher und Aerzte, Oken, vor einem halben Jahrhundert das neugeborne Kind geheim halten mußte, und daß die Taufpathen der damals noch fleinen Gesellschaft, die heute ihre Mitglieder nach Tausenden zählt, nicht einmal offen genannt werden durften. Oken selbst starb bekanntlich im Eril, ein Märtyrer der Wissenschaft, ein Blutzeuge für die wissenschaftlich- freiheitliche Entwicklung der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts. Heute tagen die radikalsten Denker und Forscher in der Hauptstadt eines römisch- katholischen Landes, in welchem der Ultramontanismus noch kühn und hoffnungsvoll seine Kräfte mit denjenigen der Aufklärer mißt. Man spricht frei und rückhaltslos in öffentlichen Versammlungen über die schwierigsten und wichtigsten Fragen des Lebens und Sterbens, des Wissens und Glaubens, der Wahrheit und des rrthums.
Auch wir halten es mit Virchow für ersprießlich, wenn die Naturforscher jederzeit daran denken, daß sie diese Freiheit wieder einbüßen könnten, daß wir im gegenwärtigen Besitz dieser Freiheit durchaus keine Gewähr für alle Zukunft erkennen dürfen, daß wir vielmehr darauf zu achten haben, durch weisen Gebrauch jener Freiheit uns ihrer jederzeit würdig zu erweisen. Wir anerkennen, daß der Mahnruf zur Mäßigung und zum Verzicht leisten auf persönliche Liebhabereien nicht ganz unbegründet ist; denn die Reaktion spudt ja an allen Enden. Wir anerkennen ferner an Virchow's Rede den Hinweis auf die Volksstimmung, das demokratische Zugeständniß, wonach jede Art von freiheitlicher Bewegungsfähigkeit ihren Untergrund in der Volksstimmung zu finden habe. Wir anerkennen mit Virchow, daß es die Aufgabe der Naturforscher ist, dafür zu sorgen, diesen Resonanzboden im Volfe nicht durch allerlei Willkürlichkeiten zu verlieren. Wir wissen auch, daß man die günstige Voltsstimmung mit Bezug auf die Annahme der Ergebnisse unserer modernen Naturwissen schaft sehr leicht verscherzen kann und daß diese Gefahr allsogleich zur Hand ist, sobald man in festen, fast dogmatisch zu nennenden Säßen ungelöste Probleme und unbewiesene Vermuthungen( Hy pothesen) als Gewißheiten hinstellt und von diesen verlangt, daß sie dem allgemeinen Unterrichtsstoff der Volksschule einverleibt werden müssen.
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Bis zu diesem Punkte werden wir alle mit Virchow einig gehen und keine Frage erscheint uns in dieser Zeit, da das Volksschulwesen im Begriffe steht, tiefgreifende Umgestaltungen zu erfahren, mehr am Blaze, als diejenige: Welches soll der Hauptinhalt dessen sein, was an neuen Lehren auf den Schulen vor getragen werden soll? Und was haben die Naturforscher dabei zu verlangen; wie sollen sie sich bei der Lösung dieser Frage berhalten?
Nun tommt Virchow auf das Häckel'sche Postulat zu reden, wonach die Abstammungs- und Entwicklungslehre einen integrirenden Bestandtheil unseres Unterrichtsstoffes abzugeben habe. Wir haben schon oben bemerkt, daß der mehrjährige Docent des Darwinismus an den züricher Hochschulen jenes Postulat schon vor mehreren Jahren aufgestellt hat. Dort, in Zürich , stieß es nur bei Theologen und Orthodoxen auf Widerspruch und der diesbezügliche Streit gehört dort heute zu den veralteten Trak
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Warum? Das sagt er eigentlich nicht so gerade und offen heraus, obschon er ganz entschieden als Naturforscher von der Wahrheit der Abstammungslehre überzeugt ist. Aber es gilt ja, dem Häckel'schen Radikalismus ein Bein zn unterstellen, und dazu benutzt er jenes Postulat, um daran anknüpfend die naturphilo sophischen Ferien- Ausflüge des Jenenser Biologen, die PlastidulenSeele und was drum und dran hängt, die Gründer"-Gesellschaft von Kohlenstoff und Comp.", die Hypothese vom beseelten Plasma in der Pflanzen- und Thierzelle, wie sie gegenwärtig von den fonsequentesten Vertretern der materialistischen Forschung angenommen wird, vor allem Volf, vor dem Häuflein konservativer Naturforscher und Aerzte, vor den anwesenden Pfaffen- nnd ultramontanen Zeitungs- Redaktoren, vor den kirchlich gesinnten und dogmenseligen Frauen lächerlich zu machen. Die Art und Weise, wie Virchow hierbei manipulirte, gibt ihm den Schein des Reaktionären. Er zieht gegen Häckel zu Felde und versetzt - ob absichtlich oder unabsichtlich dem Darwinismus schlechtweg und der Descendenztheorie überhaupt unverdiente, unmotivirte Peitschenhiebe. Auch Virchow hat vergessen, daß es ein Frevel an der Wahrheit ist, wenn man die Abstammungslehre schlechtweg mit der Darwin 'schen Zuchtwahltheorie oder mit dem Häckelismus, oder diesen leztern mit dem Darwinismus im engern Sinne identifizirt. Und den Schein dieser unheilvollen Confusion hat das Virchow'sche Votum in feinem geringeren Grade, als wie wenn es aus dem Munde eines evangelischen Consistorialrathes geflossen wäre. Es verlohnt sich der Mühe, einen Augenblick bei dieser heillosen Confusion zu verweilen. Wir haben es schon oft gethan, und wenn wir es heute wieder und wenn wir es in Zukunft abermals thun müssen, so geschieht es allerdings mit einem Gefühl schmerzlicher Resignation- darum, weil wir nicht müde werden dürfen, dem Irrthum jederzeit in Geduld die Wahrheit entgegenzuhalten.
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Herr Virchow sagt mit Recht, daß das Maß des wirklich Sichergestellten, des thatsächlich als unumstößliche Wahrheit durch die Wissenschaft in exattester Weise Bewiesenen, wenigstens in dem Sinne, daß es unmittelbar als Lehrstoff dem Volksunterricht einverleibt werden könnte, nur ein sehr beschränktes sei. Und wir fügen hinzu:
Zu dem unumstößlich und durch tausende von wissenschaftlich festgestellten, untrüglich wahren Thatsachen Bewiesenen gehören die Grundsätze der Abstammungs- Theorie schlechtweg.
Man verfolge die wissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiete der beschreibenden Zoologie und Botanik, die in exaktester Weise gewonnenen Resultate der pflanzlichen und thierischen Entwicklungsgeschichte, die nicht minder genauen Ergebnisse der vergleichenden Anatomie, die Fortschritte in der Entzifferung von Versteinerungen in allen Weltaltern, in der Entzifferung jener auf Steine und Felsen eingravirten, von der Natur selbst uns seit Jahrtausenden und Jahrmillionen aufbewahrten, nicht wegleugbaren Dokumente über die Entwicklungsgeschichte der Pflanzenund Thierwelt unseres Planeten: man frage die glaubwürdigen Fachmänner unter den Zoologen, Botanikern, Anthropologen, Geologen, Mineralogen und Paläontologen, man frage alle jene so mühsam und mit Selbstverleugnung arbeitenden Forscher, welche sich zur Aufgabe gestellt haben, unsere heute lebenden Pflanzen und Thiere von der Eizelle an bis zur vollen Entwicklung Schritt für Schritt in ihrem Werden und Wachsen zu verfolgen sie alle werden uns sagen: Die Abstammung des Höhern vom Niedrigen ist unumstößliche Thatsache, die Descendenz läßt sich schlechterdings nicht mehr leugnen, und jeder weitere Disput über die Frage der
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