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Für unsere Mütter und Hausfrauen

dumpfes Einverständnis mit dem Ende lesen: das Einverständnis von vielen Generationen ihrer Stammschwestern, die dem Priester­messer ein Leben voll Stumpfheit und tierischer Schwermut geopfert hatten. Alsdann, während das gurgelnde Geschrei und das Dröhnen der Trommeln ihn verfolgte, hatte er den Kreis verlassen, sich zu den Renntieren gesetzt und das sind mit Milch genährt, wie eine Mutter besorgt und ohne Erregung, mur ein wenig matt, als ob er gefastet habe. Dann war er in seiner Jurte verschwunden und hatte sie erst verlassen, als man weiterzog. Die Tundra war im Umkreis vieler Meilen abgeäst, und man wollte die Zelte bei den Bergen bauen, weiter im Süden.

Denn der Herbst neigte sich allgemach. Man hatte noch keinen Schnee verspürt; hatte, als der Wind ein wenig in Nordost um­sprang, zwanzig Hunde geopfert, ihnen Grasfränze um die Hälse gewickelt und sie an Stangen aufgehängt. Die Zeit drängte; man 3og den Samankabergen entgegen, um Zobelfallen zu legen- wie seit einem Menschenalter, als die Leute, die jetzt eigene Herden trieben und Weiber besaßen, noch als freischende Knaben auf ihren Hirschen geritten famen.

So ging es weiter, eine wogende, dunstige Wolfe zottiger Rücken, über denen die Jurtengerüste schwankten, von zusammengekoppelten Tieren geschleppt; eine mißtönende Lautwelle aus unzähligen Hunde­fehlen, wie ein Geräusch fröhlich drängenden Lebens, in einen ein­zigen rauhen Ton gepreßt. Das Opfer war nicht umsonst gebracht, denn in diesem Jahre, da Utku seine Hand auf das hilflose Enkel­find legte, war der Herbst noch bis in den September voll blau flimmernden Himmels, mit Vogelschwärmen und üppigem Tundra­moos. Und als man an die südliche Streifgrenze gelangt war, ver­blieb man am Fuß der Berge und erwartete den Winter. Und plötz­lich war er da; in einer Nacht kam er.

Den Tag über war die Fernsicht seltsamt klar gewesen, bis ans Beringmeer   hinüber. Auf dem Eiland Karagin hatte sich der Winter um ein weniges versäumt; er hatte sich damit vergnügt, in Bran­dungen zu plätschern und die ersten Eisblöcke an den Küsten zu zer­splittern. Nun hatte er seine Kraft gestärkt; der Sturm aus seinen Nüstern ließ seinen Bart flattern wie Wolfenfeßen; er gürtete sich die Lenden und riß die hart knirschende Pforte der schlimmen Mo­nate auf. Und dann sprang er mit einem Saße über den wild fochenden Wassergürtel von Kitschiginst und begann seine Steppen­tänze. Wie ein Raubtier überfiel er die Länderstrecken, mit einem Vortrab von Reif und erbarmungslosen Winden.

Utfu spürte ihn um Mitternacht. Sein Nomadenblut hatte in den Adern geprickelt, noch bevor er sich niederlegte. Die Schnauze eines Fuchses hatte an seinen Zeltwänden geschnopert; die bösen Geister waren draußen geschäftig. Sie rannten auf Windfüßen um die Zelte und flüsterten hohl. Utku entstieg seinem Belzsad, entzündete das Moos, das in dem Seehundsöl eines Holzgefäßes schwamm, und stellte die Leiter auf, um aus dem Eingang der Jurte, dem Kamin, zu blicken. Der Wind peitschte, als er den Kopf hinausstreckte, sein gelöstes eisgraues Haar und zerrie es aus der Vielfraßboa, die drei­mal um seinen Leib geschlungen war. Seine Nüstern nahmen fleine Kostproben aus der Luft: das war Schnee. Eine Säule von schwachem Licht brach aus dem Dualm, der ihn umspülte, und zitterte in der Luft gleich einer stiebenden Wand von unerschöpflich quellenden Flocken. Utku glitt zurück und nahm die Leiter sorgsam wieder herab. Der beizende Rauch hatte seine Lider mit Tränen gefüllt; er schloß sie und hantierte, blind und gelassen, in dem Raum umher.

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Dann setzte er sich nieder, immer noch mit geschlossenen Augen, zog alles Erreichbare um seine Schultern und begann zu grübeln. Er hatte, als er die Leiter herabhob, eine seltsame Schwäche seiner Handgelenke gespürt, eine Schwäche, derethalben er in dumpfes Er­staunen versant. Sonst hatte er beim Empfang des Winters die Flocken mit einer Art neuer Bereitschaft zu trogigem Widerstand auf den breiten Wangenknochen verspürt, hatte sich gegen die eisige Feuchtigkeit gewappnet, um einen Zoll aufrechter; aus einem ge­sammelten Schatz vieler zäh überwundener Winter heraus hatte er frisches Mark gewonnen und nun hatte ihn diese Schwäche an­gewandelt, die ihn erschreckte und ihm einige mutlose Minuten be­reitete. Während er, tiefe Furchen in der Stirn, seinen spärlichen Gedanken eine unwillige Wanderschaft gewährte, dachte er plötzlich des Augenblicks, da er half, des Priesters Messer auf Mawka zu richten.... Warum er gerade jetzt daran dachte, das entzog sich ihm; denn flugs kamen die altgewohnten Bilder wieder, die sonst in seinem Hirn zu nisten pflegten; Vorstellungen, die in nichts zer­flossen, wie die Steppe und ihr Horizont: wie es mit dem Winter­jutter bestellt sei, ob die gelegten Fallen nicht verweht würden, oder ob da und dort, auf den russischen Niederlassungen, ein Tausch­profitchen fich machen ließe.... Nach einiger Zeit machten die müden, schwerfälligen Gedanken Halt und starben ab. Utku schlief wiederum.

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Nr. 4

Draußen war ein grobes Sausen, gleichsam ein Lärm von Floden, ein unablässiges Prasseln gegen die schwankenden Häute. Ein mono­toner Singsang von Wind, ein steter Wirbel von haarfeinen Stri­stallen erfüllte den Raum. Das Feuer blatte und schickte seinen schwarzen Qualm an den Wänden entlang und doch, trotz Wind und Geächz, war eine Totenstille unter dem allem, die Stimme von Utfus stumpfem Schlaf, der mit pfeifenden Atemzügen die Stunden zerbröckeln ließ.

Auf einmal ertönte ein heller, feiner Schrei, der in ein ersticies, hilfloses Husten überging. Utku öffnete seine schiefgeschnittenen Lider und blinzelte in den schwach erhellten Raum, ohne sich zu rühren. Das Husten wurde hoch und zornig, und dann machte es einem leisen Gewimmer Platz. Es kam aus einem Berg von Pelzen und gehörte Jamut, Utfus Entelfind.

Dieses Wesen war kaum sichtbar; nur sein runder Kopf stand heraus. Es arbeitete sich in seiner Atemnot unter den Häuten her­vor, mit kleinen gelben Fäustchen; die Augäpfel, mit brombeer­schwarzen Pupillen, waren etwas hervorgetreten und schimmerten emailweiß. Der Großvater troch bedächtig herüber und blinzelte den kleinen Jamuk an, der alsbald sein Wimmern einstellte und befriedigt die Finger in den Mund bohrte.

Der Sturm verstärkte sich. Er pfiff auf allen Registern und warf ganze Klumpen Schnee an die Pfosten. Und in all dem Aufruhr lag der kleine Jamuk ruhig da und fühlte sich geborgen- wenn er nicht vier Monate alt gewesen wäre, hätte er wohl einen zierlichen Dank für so viel treue Behütung abgestattet. Sein pechschwarzes Haar war wie ein kleiner Wust, ein Kissen für seinen Kopf; er sah aus wie ein Wechselbalg und mißgeschaffener Bastard und war doch nur ein mongolisches Nomadenkind, das schrie, Milch sog und sich an­wärmen wollte wie irgend eines auf der weiten Erde.

Und Milch bekam es, soviel in seinem elfenbeinfarbenen Bäuchlein Platz hatte; Utfu war geschäftig und sehr bedacht auf die Bedürf­nisse des Kindleins. Und nachdem Jamut sich kullernd gesättigt hatte und ganz eingewickelt war, verstummte er völlig. Gleichzeitig gab es ein sprühendes Knistern, und die Schatten ballten sich herenhaft schnell zusammen. Der Moosdocht war erloschen und die Hütte tinten­schwarz.

Man sah nichts mehr; man hörte nur die tiefen Kehllaute Utfus. Er sang. Er saß in dieser erbarmungslosen Schlucht von Schwärze und urweltlichen Kälte, in seinen Belzen geborgen, und sang Groß­vaterlieder; sang den kleinen Jamuk in den Schlaf. Er schleppte eine große Last von Schwermut in diesen primitiven Versen einher und brach in einem hoffnungslosen Refrain traurig unter ihr nieder; er raffte sich wieder auf, klagte den Winter an, der das Moos vergrub, beschimpfte die Schneeteufel in hastigen Rhythmen, versöhnte die Drula, die Hundeblut leckte, mit schmeichlerischem Wohllaut und be­schwor die Frostgeister in leierndem Tonfall. Alte Sagen fielen ihm ein; buddhistische Götter, von Aberglauben und allen Schrecknissen eines öden Daseinskampfes ins Riesenhafte verzerrt, grinsten ihn an, mit glanzlosen Augen, tückisch vor Einsamkeit, herz- und blut­los. Und diese Schemen besuchten zur Stunde jede Jurte, wie sie es seit Jahrhunderten getan; und die Herzen zitterten wie in der Todesstunde.

Der Schnee war draußen versiegt; einen Fuß hoch hatte er die unendlichen Strecken überschüttet; nun war sein Maß erfüllt und die Wolfen erschlafften. Ein fahler Schein machte sich breit, und der eifige Nordwind lag gleichmäßig sausend in den Zeltwänden. Utfu hatte eine halbe Stunde lang geschwiegen; nun hörte er deutlich von draußen die Morgenschreie der Renniiere, ein unendliches, bald traum­fernes, bald nahes Gegröhl, und vernahm aus dem Zelt des Schamán, das dem seinen gegenüberstand, das taktmäßige, dumpfe Trommeln von Füßen, das ziehende Kreischen einer Weidenflöte und Geklirr vieler Glasfetten.

Das war der religiöse Akt, der die Bitte begleitete, das Flehen von vielen Menschen, von alt und jung einer heimatlosen Gemein­schaft, die kopflos wurde und doch verzweifelten Troß bewahrte: Der Winter ist da! Laßt ihn kommen.

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Wir haben unsere Herden, wir haben Hunde, warme Pologs und gedörrtes Fleisch. Wir haben Seehundsöl, Reis, Talg und geronnenes Blut, das wir backen. Wir haben Weiber und wachsame Kinder... wir sind bereit!

Laßt den Winter kommen, wir fürchten ihn nicht...."

Utku war müde geworden. Sein Haupt sank herunter, und die Bilder der nächtlichen Schrecknisse verließen ihn; sie wanderten als verblaßte Schatten in den Nebel, in dem die Sonne wie eine Blut­lache schwamm. ( Schluß folgt.)

Verantwortlich für die Redaktion: Frau Klara Bettin( Bundel), Wilhelmshöhe. Post Degerloch bet Stuttgart  .

Druck und Verlag von J. H. W. Diez Nachf. G.m.b.8. tn Stuttgart  .