sich dergestalt aus, daß auch meine dramatische Form alle Theater grenzen überschritt und sich den lebendigen Ereignissen mehr zu nähern suchte...."

Neben allen diesen mannichfaltigen Studien, Entwürfen und Arbeiten verschmähte der junge Dichter auch in Straßburg   den heiteren Lebensgenuß nicht. Besonders nahm er gern an öffent lichen Belustigungen theil und machte mit seinen Freunden während der schönen Jahreszeit Ausflüge in die freundliche Umgebung der Stadt, und wir müssen hierbei wieder zweier Herzensgeschichten Goethe's   gedenken. Die eine, die merkwürdige Episode seiner Beziehungen zu den beiden Töchtern des Tanzlehrers, bei dem er ,, walzen" lernte, den lebhaften Französinnen Emilie und Lucinde, soll uns hier nicht weiter aufhalten; man mag die von dem Dichter in Wahrheit und Dichtung" selbst gegebene Schilderung darüber lesen. Einer eingehenden Erwähnung aber scheint mir sein Verhältniß zu Friederike von Sesenheim werth, jenes von unvergleichlichem Zauber umflossene Bild der Liebe eines Dichters. Friederike Brion   von Sesenheim  , schon aus diesem Namen weht dem Kundigen jetzt ein wundersamer, poesievoller Hauch entgegen, und ein eigenthümlicher Reiz, eine fast ergreifende Macht süßer und wehmüthiger Rückerinnerung scheint in den schlichten Worten zu wohnen!

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Er sah sie zuerst bei einem Besuche, den er auf Veranlassung und in Gemeinschaft seines Freundes und Tischgenossen Weyland, des vorher erwähnten jungen Juristen, eines Oktobertags in dem Hause des evangelischen Pfarrers Johann Jakob Brion zu Sesen­ heim  , wenige Stunden von Straßburg  , machte. Sie trug, für wahr ein allerliebster Stern an diesem ländlichen Himmel, ein furzes, weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes, weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze, so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpf näschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt feine Sorgen geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm," und so empfand Goethe das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen".

Und sie sehen und sich in sie verlieben, war bei unserem Goethe eins. Und vollends, als sie dann draußen im Freien mit heller Stimme ihre lustigen elsasser und schweizer Liedchen sang, und als es in die klare Luft hineintönte:

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Vom Wald bin ich kommen, wo's stockfinster ist, Und ich lieb' dich von Herzen, das glaub' mir gewiß, Und da lacht er, da lacht er, der schelmische Dieb, Als ob er wohl wüßte, wie sehr ich ihn lieb'. Ei ja, ei ja, ei, ei, ei, ei, ei ja, ja, ja!"

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da hatte die kleine Pfarrerstochter sein großes Herz ganz in Bann geschlagen. Wir wissen, was nun geschah, welch' selige Tage und Wochen den beiden verflossen, wir wissen, welches das Ende war, daß Goethe ihr nach kurzem Rausch entsagte, wir wissen aber auch, daß der Dichter selbst gestand, das schönste Herz in seinem Tiefsten verwundet zu haben," und wir wissen aus dem Munde seines Sekretärs Kräuter, daß, als der Dichter ihm seine Erinnerungen an Sesenheim   und Friederike   vierzig Jahre später diktirte, daß da der Greis, im Zimmer auf und ab gehend, oft stehen blieb und im Diftiren innehielt, in langes Schweigen versant und seufzte und nur in leisem Tone weiter erzählte. Und wir verdanken seiner Liebesempfindung zu Friederike von Sesenheim   eine Reihe der trefflichsten Lieder und das Märchen von der Neuen Melusine". Wir haben ferner das Selbst bekenntniß: Die beiden Marien in Göß von Berlichingen und Clavigo   und die beiden schlechten Figuren, die ihre Liebhaber spielen, möchten wohl Resultate solcher reuigen Betrachtungen ( wie sie der Dichter nach seiner Trennung von Friederike   an stellte) sein."

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Goethe hatte inzwischen ernstlich daran gedacht, sich dem von seinem Vater gewünschten Examen, durch welches er sich den Doktorhut erwerben sollte, zu unterziehen. Die lateinisch ge schriebene Dissertation, so sehr sie dem Vater gefiel, fand jedoch nicht den genügenden Beifall der juristischen Fakultät, um zum Druck zu gelangen. Er durfte daher nur über eine Reihe auf das Staatsrecht bezüglicher Thesen disputiren und wurde darauf hin im August 1771 zum Doktor der Rechte promovirt. Gegen

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Ende desselben Monats kehrte er nach Frankfurt   zurück, unter­wegs in Mannheim   noch neue schöne Eindrücke in sich aufnehmend, indem er hier zum erstenmal die herrlichsten antiken Bildwerke in Gypsabgüssen sah. ,, eine Sammlung trefflicher Abgüsse der durch Winkelmanns Schriften auf's neue in das geistige Leben der Gegenwart gerufenen Götter- und Heroenwelt Griechen­ lands  ."

Sobald der junge Doktor wieder im Elternhause angekommen war, ließ er sich auf den Wunsch des Vaters als Advokat ver­eiden, ohne in der Folge sich indeß mit besonderem Eifer der juristischen Thätigkeit zu widmen. Den größten Theil seiner Zeit nahmen erneute Beschäftigungen mit der griechischen Literatur, der gothischen Baukunst, der Bibel und vor allem die Arbeiten am" Göz" in Anspruch. Unter denen, welchen er seine Pläne mitzutheilen und das Geschriebene vorzulesen pflegte, befand sich jetzt auch J. G. Schlosser wieder, sowie dessen älterer Bruder Hiero­ nymus  , durch welche er mit dem Kriegszahlmeister J. H. Merck in Darmstadt   bekannt gemacht wurde. Dieser Mann ist bekannt­lich von der größten Bedeutung für Goethe gewesen, dessen un­übertreffliches Talent und geistigen Reichthum er schon damals mit richtigem Blick erkannte. Merck stand mit den bedeutendsten Geistern jener Zeit, u. a. mit Herder, in intimen Beziehungen; ein feiner Kenner, namentlich der englischen Literatur und ein vielseitig Gelehrter überhaupt, wurde er wegen seines sicheren, treffenden Urtheils geschäßt, welches er vorzugsweise in seinen Beiträgen zu den Frankfurter gelehrten Anzeigen", zu Nicolai's Allgemeiner Bibliothek" und zu Wielands Merkur  " nieder­zulegen pflegte. Durch diese neue Bekanntschaft wurde Goethe vor allem veranlaßt, ebenfalls zu den Frankfurter gelehrten Anzeigen" durch Beiträge aus seiner Feder in Beziehung zu treten, was wiederum zur Folge hatte, daß er mit einer Anzahl anderer gediegener Männer in Verbindung kam.

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Die erste Bearbeitung des ,, Göz von Berlichingen" entstand zu ihrem größten Theile im November 1771, zu welcher Zeit der Dichter an Salzmann schrieb: Mein ganzer Genius liegt auf Unternehmen, worüber Homer   und Shakespeare   und alles ver­gessen werden! Ich dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen  , rette das Andenken eines Mannes, und die viele Arbeit, die mich's kostet, macht mir einen wahren Zeitvertreib, den ich hier so nöthig habe." Indessen beschäftigte ihn die Dichtung, welche er bekanntlich noch zweimal bearbeitete, auch während seines nächstfolgenden Aufenthalts in Frankfurt   noch, und die Veröffent­lichung des Dramas fand erst im Frühjahr 1773 statt. Wie schon bemerkt, liegt die Bedeutung der straßburger Zeit für Goethe vor allem darin, daß sie seinem Geiste die Richtung auf eine ächt deutsche Bildung gab. Er stellte sich, sowohl durch Lessings rücksichtslose Kritik des damals allgemein herrschenden französischen  Dramas wie durch das Studium Shakespeare's  , direkt dazu an­geregt, in dieser Schöpfung in einen prinzipiellen Gegensatz zu dem unnatürlichen, deklamatorischen Charakter des französischen  Theaters, indem er die Personen des Stücks dem wirklichen Leben entsprechend auftreten, denken, reden und handeln ließ. Es spricht sich darin durchaus der Sturm und Drang   in seiner damaligen Gemüths und Gedankenwelt aus, und wenn es hier nicht unsre Aufgabe sein kann, näher auf die Komposition des Stückes, die Anlage und Durchführung der Charaktere desselben einzugehen, so glauben wir die Eigenart des Dramas eine Bezeichnung für den Gög", die übrigens nicht zutreffend und deren Richtig keit daher auch in Zweifel gezogen worden ist und die Stellung desselben in der Reihe der goethe'schen Werke am besten durch folgende Worte des berühmten Biographen unseres Dichters zu verdeutlichen: Besonders anziehend für einen Dichter dieser Zeit" sagt Lewes   ,, war im, Göz die Weihe individueller Größe. Nicht durch seinen Rang, sondern durch seine Natur war er groß; seine Ueberlegenheit war nicht ein Erbtheil seines Hauses, nicht durch Hofgunst erlangt, sie ruhte allein auf seinem starken Arm und seinem unbezwinglichen Geist. Und war nicht auch der Kampf des ganzen achtzehnten Jahrhunderts ein Kampf für die Anerkennung des Individuums, ein Kampf von Recht gegen Vor­recht, von Freiheit gegen Herkommen? Der Kampf des sechzehnten Jahrhunderts galt denselben Zielen; die Reformation war auf religiösem Gebiete, was die Revolution auf politischem: ein Wider­stand gegen die Tyrannei des Herkommens, ein Kampf für die Rechte individueller Gedankenfreiheit gegen die starren Gesetze der herrschenden Klassen." Und, fügen wir hinzu: Himmlische Luft Freiheit! Freiheit!" sind die letzten Worte des sterbenden Göz, dieses Ritters mit der eisernen Hand und dem eisernen Willen....

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