Hier verlebte er zunächst unruhige und unglückliche Tage; da er sich trotz aller Vernunftgründe doch nicht von Lili loszureißen vermochte und diese selbst, ungeachtet der von anderer Seite unternommenen Bemühungen, eine Trennung der beiden herbei zuführen, treu bei dem Geliebten ausharrte, den sie, nach ihrem eigenen Geständniß, als den Schöpfer und Unterhalter ihrer ganzen moralischen Existenz" erkennen gelernt hatte. Nur die Beschäftigung mit der Poesie gewährte ihm wieder einigen Trost und einige Beruhigung, und nachdem bereits noch das sehr schwache Drama" Stella" beendet worden war, begann er jetzt die erst viel später vollendete Tragödie Egmont  ". Endlich wurde die Verlobung mit Lili aufgehoben; ihr Bild verließ ihn aber nicht, sondern folgte ihm auch nach Weimar  , wohin wir ihn nun zu begleiten haben werden.

Der Erbprinz von Weimar  , welcher, erst achtzehnjährig, am 3. September die Regierung angetreten hatte, kam nämlich auf der Rückreise von Darmstadt  , wo er sich am 3. Oktober mit der Prinzessin Luise von Hessen- Darmstadt   vermählt hatte, am 12. des zuleßt genannten Monats abermals nach Frankfurt   und wiederholte noch dringlicher seine Einladung, daß Goethe nach Weimar   kommen möge. Trotz alles Widerstrebens von Seiten des Vaters erklärte er sich, von dem lebhaften Verlangen, vor allem Frankfurt   den Rücken zu kehren, geleitet, jetzt bereit, dieser Einladung zu folgen. Durch das Eintreten von Umständen, die hier nicht weiter erzählt zu werden brauchen, erfolgte die Reise nach der kleinen großherzoglichen Residenz von Heidelberg   aus. Welch einer bedeutungsvollen Periode seines Lebens und Schaf fens er in Weimar   entgegenging, konnte er jetzt noch nicht ein mal ahnen, und seiner Heidelberger   Wirthin, die ihn für die Reise nach Italien   zu bestimmen suchte, rief er, wie er am Schluß von Wahrheit und Dichtung" erzählt, bezeichnend genug die Worte Egmonts zu: ,, Kind, Kind! Nicht weiter! Wie von un sichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch, und uns bleibt nichts, als muthig gefaßt die Zügel zu halten und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Stege da, die Räder abzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam!..." Die lustige Zeit in Weimar  " hat man die ersten Jahre, die Goethe in Weimar   verbracht, genannt, und man mag dieser Be­zeichnung im ganzen zustimmen. Es war eine wunderlich bnnt zusammengewürfelte Gesellschaft, sowohl was Rang und Stand wie Meinung und Lebensanschauung anlangt, die sich hier zu einem zwanglos gemüthlichen Kreise vereinigt hatte, dessen ein­zelne Glieder hingegen in ihrem schöngeistigen Streben, in der Vornehmheit ihrer Geister den besten gemeinsamen Berührungs­punkt besaßen. Die hervorragendsten Persönlichkeiten dieses Kreises wenigstens müssen wir uns etwas genauer ansehen.

Da ist vor allem der junge Herzog Karl August selbst, ein Mensch, der sich durch mancherlei innere Kämpfe und Wandlungen jene Selbständigkeit des Charakters, jene Festigkeit des Willens erwarb, die ihn einmal vorgesteckte Ziele, unbeirrt durch gegen theilige Stimmen, tamen sie, woher sie wollten, mit eiserner Konsequenz erreichen ließ, ein Feind alles äußerlichen Ceremoniells und leeren Formenkrams, kurz und bestimmt in seinem Auftreten, von einem rastlosen Triebe nach Thätigkeit beseelt, die dem von ihm regierten Volke galt, wie bei selten einem, die das Szepter führten, ein Mann, der das edelschöne Wort Friedrichs des Großen: Der Fürst ist nur der erste der Unterthanen" in seinem ganzen Thun und Lassen verwirklichte, und von dem Merd, den man wahrlich nicht der Liebedienerei zeihen darf, in einem Briefe an Nicolai mit Recht sagen konnte: Das Beste von allem ist der Herzog, den die Esel zu einem schwachen Menschen gebrand markt haben, und der ein eisenfester Charakter ist. Ich würde aus Liebe zu ihm ebendas thun, was Goethe thut.... Ich sage Ihnen aufrichtig, der Herzog ist einer der respektabelsten und gescheitesten Menschen, die ich je gesehen habe, und überlegen und überlegen Sie, dabei ein Fürst und ein Mensch von zwanzig Jahren...." Dann die Mutter des Herzogs, Anna Amalia  , eine Frau, die eben infolge ihrer hohen Bildung und ihres lebhaften Kunst­sinnes in gleichem Maße, wie ihr Sohn, sich den Fesseln gehalt­Lofer Etiquette entwand und durch die Heiterkeit und Gutmüthig­feit ihres Naturells in freundlichster Weise auf ihre hohe und niedere Umgebung einwirkte. Ferner die in sich gekehrte und wortfarge, aber nichtsdestoweniger von allen den bedeutenden Geistern, die in ihre Nähe tamen, hochverehrte Gemahlin des Herzogs, Luise, die selbst einem Napoleon 1  . zu imponiren wußte, der ihr in Bezug auf sein wenig mittheilsames Wesen ähnliche

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Prinz Konstantin, Knebel, Wieland, der seit zwei Jahren den Teutschen   Merkur", eine der einflußreichsten Literaturzeitschriften von damals, herausgab, der Märchendichter Musäus  , der Ueber­seger des Don Quixote  " und geheime Kabinetssekretär des Herzogs F. J. Bertuch  , der Komponist goethe'scher Lieder Kammer­herr Freiherr von Seckendorff, der mit dramatischem Talent be­gabte Hildebrandt von Einsiedel, denen sich im Oktober 1776 noch Herder  , der durch Goethe's Vermittlung als Generalsuper­intendent nach Weimar   berufen wurde, anschloß, die kleine und verwachsene Hofdame der Herzogin Amalia  , Thusnelda   von Göchhausen  , die, seit 1778 freilich erst in Weimar   anwesende und ebenfalls durch den Dichter herangezogene schöne Hofsängerin Korona Schröter, die Gräfin von Werther  , und unter diesen Frauen endlich und vor allen Charlotte von Stein  .

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Wie groß der Eindruck der goethe'schen Persönlichkeit gleich von Anfang an in Weimar   gewesen ist, dafür sind zunächst die Briefe Wielands ein beredtes Zeugniß. Goethe, den wir seit neun Tagen hier besißen," schreibt der letztere u. a. ist das größte Genie und der beste liebenswertheſte Mensch, den ich kenne."- ,, Ich lebe nun neun Wochen mit Goethe und lebe, seit unsre Seelenvereinigung so unvermerkt und ohne allen effort nach und nach zu Stande gekommen, ganz in ihm. Es ist in allen Betrachtungen und von allen Seiten das größte, beste, herr­lichste, menschliche Wesen, das Gott geschaffen hat." Heute war eine Stunde, wo ich ihn erst in seiner ganzen Herrlichkeit, der ganzen schönen, gefühlvollen, reinen Menschheit sah. Außer mir kniet' ich neben ihm, drückte meine Seele an seine Brust und betete Gott   an." Und ein anderes mal wird er zu der Ueberschwänglichkeit gedrängt, daß er sagt, er hätte Goethe vor Liebe fressen können...."

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Der geniale junge Dichter wurde schon in der ersten Woche seiner Anwesenheit in Weimar   der vertrauteste Freund des Her­zogs, der ihm gegenüber seine fürstliche Würde völlig vergaß, mit ihm zusammen speiste, oft in demselben Zimmer schlief und sich brüderlich mit ihm ,, Du" nannte, und es war noch ein Stück fraftgenialischer Tollheit, welches die beiden, allen andern voran, während der ersten Monate ihres Zusammenlebens zum Entsetzen des ehrsamen Weimars und zum nicht geringen Erstaunen auch weiterer Kreise in Deutschland   mitsammen aufführten. Die wil­desten Reitervergnügungen, Jagd, Trinkgelage, Schlittenfahrten, Schlittschuhlaufen( welches leztere seit Goethe's   Ankunft auf dem Schwanenteiche der kleinen Residenz zur Wuth" wurde), Tanz, Maskeraden u. 5. w. waren an der Tagesordnung, und es iſt bekannt, daß Goethe im Mai von 1776 über dieses ausgelassene Treiben selbst sich in einem Briefe an Merck äußerte: Ich treib's hier toll genug und denk oft an dich. Wir machen des Teufels Beug." So schlimm schien dem guten Klopstock dieses Teufels­zeug", daß er sich zu einem ernsten Briefe der Mahnung und Warnung an Goethe genöthigt sah, in welchem er beispielsweise sagt: Der Herzog wird, wenn er sich ferner bis zum Krank­werden betrinkt, anstatt, wie er sagt, seinen Körper dadurch zu Es haben sich wohl stärken, erliegen und nicht lange leben. starkgeborne Jünglinge, und das ist denn doch der Herzog gewiß nicht, auf diese Art frühe hingeopfert." Goethe antwortete darauf u. a.: Verschonen Sie uns fünftig mit solchen Briefen, lieber Klopstock! Sie helfen uns nichts und machen uns immer ein paar böse Stunden." Durch die Schroffheit, mit welcher der allzu besorgte Sänger des Messias  " diesen Brief beantwortete, wurde übrigens ein vollständiger, nie wieder geheilter Bruch zwischem ihm und Goethe herbeigeführt.

Nun hat aber Goethe an dem tollen Wirbel solcher Zer­streuungen, in welchem er in diesem Falle vor allem wohl seine, wie gesagt, noch immer heimlich in seiner Seele fortwebende Neigung zu Lili ersticken und vergessen wollte, niemals lange Gefallen gefunden; er suchte in der idyllischen Umgebung Weimars  und Jenas wieder den Umgang mit der Natur, und wie sehr er das Bedürfniß nach Ruhe und Sammlung empfand, spricht sich ergreifend in dem am 12. Februar 1776 am Hang des Ettersbergs gedichteten ,, Nachtlied" des Wanderers" aus, welches, eben weil es so charakteristisch für seine damalige Stimmung ist, trog seiner formellen Mängel hier eine Stelle finden mag:

,, Der du von dem Himmel bist, Alles Leid und Schmerzen stilleſt, Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquidung füllest,

Ach, ich bin des Treibens müde!

Was soll all' der Schmerz und Luft? Süßer Friede,

Komm, ach tomm in meine Brust!..."