den andern, welche in stumpfer Gleichgiltigkeit oder feiger Selbst­sucht thatenlos dabei gestanden hatten, als das Gebäude seiner Existenz krachend über seinem schuldlosen Haupte zusammenstürzte! Auf diese und manche andere Frage wußte Fritz Lauter sich ebenso wenig eine Antwort zu geben, die ihm genügt hätte, als auf jene, die sein Besuch in der Villa Alster von neuem in ihm rege gemacht hatte.

Das eine wurde ihm jedoch klar bei dem Auf- und Nieder tauchen dieser qualvollen Fragen, auf die er sich selbst ebenso gut die Antwort schuldig bleiben mußte, wie sie ihm diejenigen schuldig geblieben wären, denen er sie etwa hätte vorlegen können das eine, daß für seinen Drang, sich mit dem Leben um ihn her ver­traut zu machen, nicht blos zu schauen, sondern zu begreifen, was da geschieht, es doch nur ein einziges Mittel der Befrie­digung geben könne; die Aneignung eines umfangreichen Wissens, einer möglichst gründlichen und vielseitigen Bildung.

Er hatte das nun zwar früher auch schon lebhaft genug empfunden, und er war ja auch stets entschlossen gewesen, alles zu thun, um sich recht vielfältige und gründliche Kenntnisse zu erwerben; er hatte sogar in der letzten Zeit mit wahrem Feuer eifer zu studiren angefangen, aber er konnte es sich nicht ver­hehlen, daß er eigentlich garnicht darüber im klaren sei, ob er bei seinem Lesen und Lernen den rechten Weg eingeschlagen habe. Er hatte da zu studiren beginnen wollen, wo er in der Schule aufgehört hatte. Darum mußten die alten, abgerissenen, ver­staubten Schulbücher aus den Rumpelkästen des Hauses auf dem Boden und im Keller wieder heraus, um sich ein wenig den Staub ausklopfen und die schmutzigen Einbände mit einem neuen Gewande aus weißem Papier herauspußen zu lassen. Dann war Frizz an's Lernen gegangen, als ob er nächsten Michaelis termin das Examen behufs Aufnahme in die Oberquarta eines Gymnasiums abzulegen hätte.

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Erstens aber zeigte sich dieses Studium viel schwerer, als Fritz geglaubt, er hatte doch schon verzweifelt viel vergessen; dann war es merkwürdigerweise herzlich wenig interessant, und endlich konnte Frizz absolut nicht einsehen, was ihm die Wissenschaft, die er so sich einzutrichtern vorgenommen, im Leben würde nüßen können. Was z. B. sollte es ihm für Nußen bringen, daß er sich jetzt halb todt quälte, um den Cornelius Nepos in ein für ihn selber halbwegs verständliches Deutsch zu übertragen?

Indessen war ihm die Lebensbeschreibung des Hannibal, wie sie der alte Römer gibt, feineswegs uninteressant, und grade deshalb, weil ihm der ebenso berühmte als unglückliche kartha­gische Feldherr von allen Helden des Alterthums immer als der interessanteste und bedeutendste erschienen war, hatte er sich zuerst an diese Leistung des biederen Cornelius gemacht.

Aber wenn er auch für sein Leben lang niemals vergaß, in welchem Jahre vor Christi Geburt, warum und wie der gewaltige Karthager bei Cannä den glänzenden Sieg über die Römer er fochten und bei Zama ihnen traurig unterlegen sei sein Ver­ständniß für das Leben seiner Zeit, für die geschichtlichen Er­eignisse, deren Wirkungen und Folgen er in den Gestaltungen des nenesten Staats- und Gesellschaftswesens zutage treten, ge­wissermaßen Körper gewinnen sah, wuchs nicht, diese traten ihm darum nicht um den kleinsten Schritt näher, ja, es schien ihm, als wenn dadurch, daß einer sich in die Geschichte des Alter thums, in seine Einrichtungen und Bestrebungen recht vertiefe, sein Blick für die neue Zeit und ihr Leben und Treiben eher getrübt als geschärft werden müsse.

Und wenn ihm dieser Gedanke schon bei seiner Uebersetzung des Cornelius Nepos aufgestoßen war, machte sich derselbe noch weit entschiedener geltend gegenüber dem Inhalt der anderen Lehrbücher, zu welchen Friß seine Zuflucht genommen hatte. Da war Krügers griechische Grammatik und das griechische Lesebuch von Jacobs! Es war wirklich zum Davonlaufen langweilig, wenn er sich wieder eine Stunde lang selber Gewalt anthat und über den Geheimnissen der griechischen Deklination und Konjugation brütete oder die Orakelsprüche in's Deutsche übertrug, deren Weisheit der gute Jacobs in lakonisch kurzen Säßen, wie: Die Trunkenheit ist ein kleiner Wahnsinn", den empfänglichen Gemüthern seiner jungen Leser einzuprägen sich bemüht hat. Freilich war es im Verhältniß zu der Quälerei mit dem Griechischen eine Art Erholung, wenn er den kleinen Püz hervorholte und in dessen verständlichem Deutsch die Geschichte der Römer und Griechen studirte. Aber immer und ewig waren es diese Römer und Griechen, auf welche ihn seine Studien, nach

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dem, wie er gemeint hatte, mustergiltigen Vorbilde des Gymnasial­unterrichts, zurückführten.

Es kam ihm jezt ganz außerordentlich sonderbar vor, daß er in den zweieinhalb Jahren, welche er auf dem Gymnasium zu­gebracht, nicht ein Sterbenswörtchen gelernt hatte von neuerer und neuester Geschichte. Ja wenn er sich die Sache recht über­legte, so trat es ihm als ganz unzweifelhaft vor Augen, daß nicht allein die neuere Geschichte seines eigenen, des deutschen Volkes arg vernachlässigt, oder vielmehr gänzlich ignorirt worden war in den unteren Klassen des Gymnasiums, sondern daß sogar die deutsche Sprache sich mit gutem Grunde über stiefmütterliche Behandlung hätte beklagen können. Nahm doch der Unterricht im Deutschen nicht mehr als zwei Stunden in der Woche in An­spruch, während Griechisch sechs Stunden und Lateinisch volle zehn Stunden allwöchentlich gepauft wurde. Und wie wurde der deutsche Unterricht gemüthlich betrieben! Alle vier Wochen einen Auffaz, den der Lehrer gewissenhaft vierzehn Tage lang in seiner Wohnung behielt, um ihn dann höchst nothdürftig korrigirt und obenhin beurtheilt wieder mitzubringen, dann und wann ein Ge­dicht, welches auswendig gelernt und deklamirt werden mußte, und schließlich ein paar Seiten Lektüre in Masius' Lesebuche, das war alles, was da mit unverkennbarer Oberflächlichkeit ge­trieben wurde.

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Noch viel schlimmer hatte es um einen andern Unterrichts­gegenstand gestanden, von dem Frizz jetzt auch recht viel hätte profitirt haben mögen. Der gute Prorektor Weigelt wie der das Französische zu traktiren pflegte! Eine Stimme hatte der Mann und eine Aussprache des Französischen, wenn er, seiner Lieblingsneigung nachgebend, Gedichte von Beranger vortrug, deren Sinn keiner seiner Schüler verstand daß es klang wie das Rasseln eines schwerbeladenen Rollwagens über schlechtes Straßenpflaster. Dementsprechend war das Französisch, welches man von dem polternden Alten, der vor vierzig Jahren einmal in Paris gewesen sein sollte, zu lernen vermochte, ein derartig entsetzliches, daß Fritz von einem jungen Franzosen, dem er auf seiner Wanderschaft begegnet war und mit ein paar Brocken Französisch seine Sprachkenntnisse hatte beweisen wollen, spott­lächelnd gefragt worden war, ob es wohl polnisch sei, was er da hätte hören müssen. Und bei allen Versetzungen in höhere Klassen war es stets ganz gleichgiltig gewesen, ob ein Schüler von der französischen Sprache irgend etwas gelernt und in seiner deutschen Muttersprache leidliche Gewandtheit sich erworben hatte. Aber wehe dem Unglücklichen, der die schön gereimten zumpt'schen lateinischen Grammatikregeln nicht von der ersten bis zur letzten herunterschnurren konnte, wie ein Rosenkranzbeter das Paternoster, oder der nicht ganze Reihen von Seiten aus dem Cornelius Nepos und dem unausstehlichen Jacobs wörtlich auswendig ge­wußt hätte. Darauf wurde mit einem Eifer und mit einem Ernst gehalten, als wenn das Wohl und Wehe jedes Menschenkindes ausschließlich abhinge von seiner größeren oder geringeren Ver­trautheit mit den lateinischen oder griechischen Grammatiken und Lehrbüchern.

Ob diese Lehrmethode nun die richtige sein möchte? Ob es nicht vielmehr gerade dieser Unterrichtsweise geschuldet sein könnte, daß so viele gebildete, ja sogar gelehrte Leute dem praktischen Leben fremd und hilflos gegenüberstehen? Diese Fragen hatte sich Fritz mehr als einmal vorgelegt, ohne sich anfänglich zu ge­trauen, eine entschiedene Antwort darauf zu geben. Nun, nach­dem ihm der alte Herr Klose seine Lebensgeschichte erzählt, seinen Bildungsgang mit ein paar Worten beleuchtet hatte, wollte es Friz Lauter scheinen, als wenn er mit der Bejahung jener Fragen über die Lehrmethode der höheren Bildungsanstalten seines Vater­landes den Stab brechen dürfe. Herr Klose war nicht nur ein Schüler dieser Anstalten gewesen, sondern hatte viele Jahre lang als Lehrer an denselben gewirkt; er hatte sich also gewiß den Bildungsstoff, welchen sie bieten konnten, so gut als möglich zu eigen gemacht, und dennoch war ihm schon der erste Versuch, im öffentlichen Leben seiner Zeit Stellung zu nehmen, noch dazu eine sehr anspruchslose Stellung, gewissermaßen am Ufer des von wilden Stürmen bewegten Stromes des politischen Lebens, übel genug bekommen. Und das allein deswegen, weil er, der geistig gereifte und tiefgelehrte Mann, keine Ahnung gehabt hatte von den Gefahren des politischen Lebens und öffentlicher Wirksamkeit, weil er ihnen gegenübertrat mit der Naivität eines Kindes, welches in das Feuer greift, weil es nicht weiß, daß die Flamme es ver­brennen und ihm Schmerzen machen werde.( Fortsetzung folgt.)

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