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BUNTE WELT
Nr. 3
Unterhaltungsbeilage
1938
Der Zeichner der Vergessenen
Der Zeichner von Berlin O und Berlin N. Heinrich Bille, wäre am 10. Jänner 80 Jahre alt geworden, wenn ihn nicht sein güsiges Geschick im Spätsommer des Jahres 1929 hätte sterben lassen. Für die Darsteller der ungeschminkten Wahrheit wäre später fein Blab in seinem Berlin gewesen; Bille ohne Berlin wäre aber wie ein Fisch ohne Wasser. Der Alte mit dem struppigen Vart und dem breiten, schwar zen Schlapphut sprach nicht hochdeutsch, er sprach, tvie man spricht, wo er zu Hause war. Bater Zille", der sein geliebtes„ Milljöh" brauchie, hat die Welt, seine Welt, die er mit ..Schnepperchen" demt ,, Lö wen des Ostens" und der .Liefe mit's Jakoje“ teilte, zur rechten Zeit vers Taſſen, zu einer Zeit, da man die Schreden der Ver gangenheit schon bergessen hatte und die der Zukunft noch nicht kannte, da man hoffnungsfroh war,- viel leicht allzu sehr.
1924 hatte man Bater Bille zum Mitglied der Akademie gewählt, was den völkischen Fridericus" zu dem Schrei veranlaßte, den der Zeichner schmunzelnd in der furzen Stizze feines Lebenslaufes selbst zitiert: ,, Der Berliner Abort- und Schwangerschaftszeichner Heinrich Bille ist zum Mitglied der Akademie der Stünite gewählt und vom Minister bestätigt worden. Verhülle, o Muse, dein Haupt!"
in den Papiergeschäften und Schreibwarenhand-| gend", fanden Anklang und brachten auch etivas lungen von Berlin verkaufte.
Von Akademie der Künste, Kupferstichtabi nett und Nationalgalerie, wo seine Stizzen und Radierungen schließlich Aufnahme fanden, war ihm an der Wiege nichts gesungen worden. 1872 wollte der Vierzehnjährige„ Lithograph lernen". Denn Handwert hatte zu jener Zeit
ein. Heinrich Zille , das wurde ein Begriff, wie Käthe Stollwviz. Sein Herz gehörte denen, die in den feuchten Mietstajernen hausten, zehn und mehr in einem Zimmer, Männer, Frauen und Kinder; Vater, Mutter, Großmutter und bie Bettgeber, gesund oder frant, nüchtern oder betrunten. Er fannte ihr Leben, das so wenig vor
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,, Wenn ick will, kann ick Blut in den Schnee spucken."
Ihm war nicht darum zu tun, Mitglied der Akademie zu werden; wie wenig er auf derlei hielt, bewies er durch die Tatsache, daß er sich das„ nicht gerade heitere, von wenig Sonne erhellte Feld, den fünften Stand, die Vergessenen" zum Schauplatz seiner Tätigkeit, zum Modell gewählt hatte. Er liebte sie, diese Gestalten in den Destillen und Kellerfneipen, die Bettler, Zuhälter und Straßenmädchen, die blassen Kinder um den Schlesischen Bahnhof und im Norden. Ihm waren sie so, wie sie waren, eine Welt für sich, die man befämpft, aber nicht heilt". Er kannte diese Welt und verſtand ſie, weil er ihr entstammte. Seinen Vater bezeichnete er als den ältesten Inſaſſen des Schuldgefängnißſſes, den die Gläubiger jahrelang festhielten". Seine Mutter verfertigte aus Tuch und Pelzresten Tintenwischer in Gestalt von Schweinchen, Hunden, Kaßen und Mäuſen, die der Junge nach der Schule
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noch goldenen Boden und wenn man noch Talent dazu besaß, das der Bub beim Zeichner Spanner in der Blumenstraße ausbilden ließ, dann waren die Aussichten nicht schlecht. In den Werkstätten brachte man ihm den Buntdrud bei und später die Technik des Lichtdrucks, der Zintographie und Photogravure. Zwischendurch zeichnete er für sich nach der Natur. Aber erst mit fünfzig wurde er Zeichner von Beruf, wenn er sich auch schon 1901 von den Freunden hatte überreden lassen, in der ersten Schwarz- weißAusstellung der Berliner Sezession auszustellen. Damals war man entrüstet über die Verunglimpfung Berlins und seiner Einwohner". Zille war das ziemlich piepe". Er zeichnete grimmig schmunzelnd drauflos, seine Bilder er schienen im„ Simpliziffimus" und in der„ Ju
nehm, so wenig ästhetisch auf die vornehmen Aestheten des Tiergartenviertel3 wirkte, daß es lange Zeit dauerte, ehe man diese Art binnahm, die es ablehnte, den Mantel der Eigens liebe über die Gestalten zu breiten, die in Wohnun gen verbannt waren ,,, mit denen man Menschen genau so gut töten kann, wie mit einer Art". Er war nicht bereit, es einfach hinzuneh men, daß, wenn man die ,, Vergessenen" schon ihrem Schicksal überließ, man auch noch die Augen vor diesem Schicksal verschloß. Er machte sich feine Illusionen. er wußte, daß er das Los seiner strophulösen, tuber fulösen, fleinen Freunde in den Goffen der Großstadt mit seinen Zeichnungen nicht berbessern würde, aber fie waren da, fie lebten givischen den grauen Haus mauern ihrer armseligen Quartiere, und sie starben ebenso laut oder leise, eben so troftlos, wie sie gelebt hatten, inmitten der Luft, die voll Verzweiflung war, voll Krankheit, Alfohol und bar der Liebe. Heinrich Bille fam zu ihnen in die Schnapsbutiken, denn er gehörte zur Familie derer, die sie belebten.
Jawohl, er zeichnete die schwangeren Weiber. Aber waren fie in Ber lin O und N nicht ständig schwanger, und hätte er nicht fügen müssen, wenn er sie unerwähnt gelaffen hätte?!
Er haßte nicht. Er übersah nichts, er fannte auch die Zusammenhänge, aber er haßte nicht. Er bedeckte alles mit seinem schmunzeln den, nie laut ſchallenden, manchmal bitter traus rigen Humor, mit jenem milden Lachen, das die Tränen nicht ganz verbirgt. Wie etwa im Fräuleinskind", den zwei Bildern vom budligen Annetin, zu welchen er den Text schrieb, wie er es immer tat:
..Meist sah man die fleine Anna in der Goffe spielen. Ihr gekrümmter Rüden und die zusammengezogenen Beinchen ließen sie nicht mit anderen Kindern umberspringen. Nun ist Annetin im Himmel. Die Engel haben dea