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Die Frau und ihr Haus
Zeitschrift für kleidung Gesundheit Körperpflege und Wohnungsfragen Die Heimat auf dem Lande
heft. Z 15. Juli
Beilag
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Bon guter Haltung, von Menschenbildung und richtigem Gehen
Jch size mit meiner Freundin in der Elektrischen. Uns gegenüber eine Frau in mittleren Jahren: Moderner Hut und Schleier, elegantes Kleid, hoher Stehkragen und Korsettfigur. So sibt sie steif und wagt sich nicht zu rühren. Aber wunder schön findet sie sich in ihrem Staat. Daneben eine Frau in den Dreißigern, im blauen Seidenkleid. Ein mächtiger Hut, das Kleid ausgeschnitten, sehr viel körperliche Fülle. Der Oberkörper ist durch das Korsett gewaltig groß, die Arme vom Körper rund abstehend, die Hände liegen steif auf den weit auseinanderstehenden Knieen. Der Körper weiß in seiner eingezwängten Fülle nicht wohin mit sich selbst und seinen einzelnen Gliedern. Da treten zwei junge Mädchen in den Wagen, die eine im Mittel-, die andere im Dirndlkleid. Die schlicht getämmten Haare als Flechte um den Kopf gelegt. Strahlende Augen, blühende Farben und frische Bewegungen: ein Hauch von Lebensbejahung und Lebensfreude geht von diesen beiden jungen Mädchen aus. Unsere beiden Gegenüber fangen an zu tuscheln. Ihre Gesichter werden mokant. Sie nehmen die jungen Menschenkinder unter die Lupe und schließlich hört man aus ihren hämischen Worten die grenzenlose Verachtung über die beiden jungen Mädchen, die auch nicht die mindeste Ahnung von der neuesten Mode" haben.
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Ich bemerke, wie meiner Freundin der Arger hochsteigt; auf einmal hält es sie nicht mehr. Sie sagt zu unseren beiden Gegenübern:„ Sie scheinen diese beiden jungen Mädchen nicht zu verstehen. Sie sind schön!" Die beiden Frauen verftummen plötzlich. Aber sofort löst sich die Spannung wieder. Sie verstehen tatsächlich diese Bemerkung nicht. Man hätte ebenso gut chaldäisch mit ihnen reden können!
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Zwischen diesen Modedamen und den beiden jungen Mädels gibt es teine Brücke. Es sind Menschen von zweierlei Art. Und diese zweierlei Art gibt es nicht etwa vereinzelt, sondern unsere Frauen von heute sind überhaupt in zwei Lager geteilt: solche, die sich als Kleiderständer betrachten, die ihre Zeit damit
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hinbringen, die Mode zu studieren und sich bis an ihr Lebens. ende in jeder Saison mit ihren Erzeugnissen zu behängen und solche, die leben, um aufzunehmen, zu genießen, sich selbst auszuwirken. Natürlich gibt es auch Zwischenstufen, aber diese spielen für unsere Betrachtung keine Rolle.
Woher kommt nun dieser gewaltige Unterschied bei unseren Frauen? Ein Unterschied, der, wie wir gesehen, keineswegs rein äußerlich ist, sondern der sich auf den ganzen Menschen mit all seinen Interessen, seinem ganzen Sein erstreckt. Er hat seine Ursache in der ganz verschiedenen Betrachtung des eigenen Körpers. Ist er den einen lediglich Objekt für die Mode, so ist er den anderen wesentlichster Teil ihrer Persön lichkeit. Diese andern wissen, daß nur der freie Körper gesund und daß nur der gesunde Körper bolles Menschenglück gewähren tann. Aber nicht nur dies: Diese anderen haben auch anderss artige Schönheitsbegriffe. Alles was geschraubt und hölzern und steif, ist für sie unschön. Bei einer geschnürten Frau vernimmt das feinere Ohr stets das Geräusch von knackenden Stahlstangen und man spürt Kurzatmigkeit. Freie Haltung und Bewegung und die dem Körper gemäße, sinnvolle Kleidung dagegen formen gemeinsam den Begriff der Schönheit.
Wie stellen nun wir Mütter uns zu diesen Dingen? Wir haben in diesen Blättern schon häufig auf das Verwerfliche unnatürlicher, ungesunder Kleidung hingewiesen. Unsere aufmerksamen Leserinnen werden im Grundsatz mit uns einig sein, daß wir sie für uns selbst und im Interesse der Volksgesundheit ablehnen müssen. Nicht ganz dasselbe ist es aber um unser Schönheitsgefühl. Wenn heute manche unserer Anhängerinnen eine schide Korsettfigur" noch hübscher finden mögen, als den frei sich bewegenden Körper, so haben sie nicht immer ganz unrecht. Denn der ungeschnürte Körper, der sich gar nicht in der Gewalt hat, der Muskeln spannt, wo sie lose sein müßten und umgekehrt, der den Bauch vorstreckt, den Rücken frumm hält, der mit den Hüften wackelt und die Füße
schlecht seht, der wirkt manchmal unästhes tischer als die Korsettfigur, die durch die modische Note einen gewissen Reiz erhält. Was wir heute brauchen ist: sehen Iernen! Auf uns selber, auf unsere