auf einen beträchtlichen Zuwachs an Humanität. Welcher reiche Bürger hätte vor zwanzig, dreißig Jahren daran gedacht, seinen erwachsenen Töchtern ein ganzes Jahr lang Literaturvorträge halten zu lassen? TaS ist auch ein Zeichen der Zeit, lieber Lauter, glauben Sie mir." „Ja, es ist merkwürdig," erwiderte Fritz Lanier,„ich hatte gemeint, die reichen Leute, und besonders die Damen, kümmerten sich nur sehr wenig um die Wissenschaft. Wäre es nicht unbescheiden, wenn ich Sie bäte, Herr Klose, mir zu sagen, wer die Herrschasten sind?" „Nicht im geringsten, nicht im geringsten, lieber Lauter. Tie eine der in Rede stehenden Familien ist die des Eisenbahndirektors Oberbaurath Schneemann, eine andre die des Justizrath Wichtel, ferner die des reichen Privatier Herrn Alster—" „Alster !" rief Fritz, der schon bei dem Namen Wichtel erstaunt aufgehorcht hatte, sehr überrascht aus.„Wanda Alster wird Ihre Schülerin, Herr Klose?" Herr Klose war seinerseits über das lebhafte Interesse, welches Fritz Lauter an dem zuletzt genannten Namen an den Tag legte, auch ein wenig verwundert.„Sie kennen die Familie Alster oder wenigstens Fräulein Alster, deren Bornamen i ch nicht einmal weiß?" Fritz überwand rasch den Anflug von Verlegenheit, welcher ihn ob seines sicherlich recht auffälligen Herausplatzens mit seiner Theilnahme für Wanda überkommen hatte, und theilte Herrn Klose in wenigen Worten mit, daß Herr Alster ein Bekannter seines Vaters gewesen sei, und daß er, Fritz, ein Jugendgespiele Wanda's und vor kurzem der Familie wieder begegnet sei. „Es scheinen sehr liebe Leute zu sein, die Alster," meinte Herr Klose;„Herr Alster grade soll es gewesen sein, welcher mir das einträgliche und ehrenvolle Engagement verschafft hat. Sie können Sich denken, daß es mehr als einen jungen Privat- dozenten gibt und manchen Gymnasiallehrer, der mich darum beneidet. Ich habe mich selbst am meisten gewundert, daß man ans mich,_ den unbeachtet, fast vergessen dahinlebenden, ehemaligen Schulmeister verfallen ist, einen Menschen ohne jede Spur wissen- schaftlichen Rufes—" Herr Klose unterbrach sich.„Es muß aber wirklich schon sehr spät sein; die Herren an dem kleinen Stammtisch da drüben, der flotte Herr Schweder und sein Freund, der Fabrikant— wie heißt er doch?— erheben sich zum Auf- brnch!" Fritz schaute hinüber. Herr Schlveder half grade einer hoch- gewachsenen Dame von elegantester Toilette die Sammetmantille um die schönen Schultern legen. Fritz Lauter mußte wohl etwas länger hingeschaut haben, als grade nöthig gewesen wäre, denn Herr Klose sagte lächelnd und nicht ohne tiefere Beziehung: „Schauen Sie nicht zuviel nach den schönen Frauen der vor- nehmen Stände, lieber Lauter; solch' ein prachtvoll gefiederter Paradiesvogel hat schon manchem Jüngling aus dem Volke das ehrliche Herz geraubt und die Freude an den anspruchsloseren Töchtern seines Standes verdorben." Fritz Lauter schüttelte sehr energisch den Kopf.„Nein, ver- ehrter Herr Klose," betheuerte er,„so rasch folgt mein Herz meinen Augen nicht, und so thöricht bin ich auch nicht, daß ich eine vornehme Dame mit anderen Gefühlen, als mit denen eines Interesses, wie man es für ein schönes Bild oder so etwas empfindet, anschauen könnte." „Nun, nun, Sie sind noch sehr jung, und Ihr Herz—" Herr Klose brach wieder ganz plötzlich ab. Jetzt starrte er mit weitgeöffneten Augen nach der Dame hin, die sich eben zum Gehen gewendet hatte und direkt ans den Tisch zukam, an dem Herr Klose und Fritz Lauter saßen. „Daß die Thür nach der Straße so früh geschlossen wird, ist abscheulich," sagte die Dame zu Herrn Schweder, der dicht an ihrer linken Seite schritt.„Man muß bei allen möglichen Leuten Revue passiren." „Warum nicht, meine Gnädigste?" entgegnete Herr Schweder. „Die Sonne strahlt ja auch aller Welt, ohne sich zu beklagen!" „Wenn ich die Sonne wäre, lieber Freund, so würde ich jetzt die schwärzeste Gewitterwolke rufen, um mein Haupt zu verhüllen, aus Aerger, daß mir so geistreiche Lippen eine so verbrauchte Schmeichelei sagen." „Ich kann mit dem besten Gelvissen von der Welt versichern, meine schönste, gnädige Frau, daß der Vergleich, den ich wagte, tiefere Beziehungen und viel größere Berechtigung für mich hatte, als Sie vermuthen können. Sie waren mir heut Abend die Sonne, lvelche mir einen dunklen Pfad tageshell beleuchtet und
meinen Kopf mit einem gradezu genialen, sieghaften Gedanken befruchtet hat." Die schöne Frau Senkbeil schaute Herrn Schweder prüfend in's Auge.„Das müssen Sie mir gelegentlich erklären." Sie war an der Thür angekommen und nahm den Arm ihres Gatten, der mit einem älteren Herrn, einem Verwandten, welcher seine Gattin heute in's Theater und dann hierher in's Restaurant Weinhold begleitet hatte, hinter den beiden hergeschritten war. Herr Klose schaute der Gesellschaft nach mit so gespannter Aufmerksamkeit, mit so offenbarem Entsetzen, als hätte er ein Gespenst gesehen. „Die Dame ist wirklich sehr schön," sagte Fritz, der nicht recht wußte, wie er das Benehmen des alten Herrn deuten sollte. „Dieses langgelockte, röthlich goldene Haar und diese großen, dunklen Augen,— ich glaube so ein schönes, eigenthümliches Frauengesicht noch nie gesehen zu haben, ich meine, man könnte sich fürchten vor diesen Augen." „Sie haben recht,— in Ihnen stecken die trefflichsten Anlagen zu einem ausgezeichneten Menschenkenner, liebster, bester Lauter," erwiderte Herr Klose, sichtlich tief erregt.„Fürchten könnte mau! sich vor diesen Augen und vor den goldig schillernden Schlangen- locken. Ich habe zwar nicht, wie Sie, niemals eine so eigen- thümliche Schönheit gesehen, aber doch nur einmal, und ich hoffte, sie nie wiederzusehen." „Sie kennen also die Dame, Herr Klose?" „Ich— Sie kennen— diese Dame? O nein, gewiß nicht. Die Dame ist doch sicher noch sehr jung, nicht wahr, lieber Lauter? Sie muß jung sein, ganz ohne Zweifel!" „Ich würde diese Dame auf höchstens fünfundzwanzig Jahre schätzen," entgegnete Fritz Lauter, indem er Herrn Klose ver- wundert betrachtete. „Natürlich, höchstens fünfundzwanzig Jahre!" wiederholte der- alte Herr, wie erleichtert.„Sie werden Sich wundern, daß ich mich so lebhaft für die junge Dame interessire; es rührt das daher, daß ich einst jemanden gekannt habe, vor langer, langer Zeit gekannt und zum letztenmal gesehen habe, der dieser jungen Dame sehr auffallend ähnlich sah, wie mir wenigstens im Augen- blick schien,— vielleicht täusche ich mich, mein Gedächtniß ist so wenig zuverlässig." Herr Klose sagte das in einem Tone, der es Fritz räthlich erscheinen ließ, von der Sache nicht weiter zu sprechen. Eine angenehme Erinnerung konnte es jedenfalls nicht sein, die in dem mit freundlichen Erinnerungen überhaupt nicht gesegneten Manne aufgestiegen war. „Wir werden bald die letzten Gäste sein," bemerkte Fritz daher zum endlichen Aufbruch mahnend. „Sie haben recht, gehen wir. Und wenn Sie morgen, oder wohl eigentlich heute, früh um 7 Uhr Sich noch am Setzkasten den Schlaf aus den Augen reiben müssen, so denken Sie, lieber Lauter, daß Ihre Müdigkeit einem Freundschaftsdienst geschuldet ist, den Sie einem srende- und sreundesarmen alten Menschen geleistet haben." * Am nächsten Morgen gegen 1l Uhr sehen wir einen Mieth- wagen vor dem großen Portale des alsterschen Hauses halt machen. Einer unsrer Bekannten von gestern Abend, Herr Schweder, springt heraus und winkt dem Kutscher, zu warten. Mit tiefem Komplimente wird der elegante Herr von dem gemüthlichen August empfange». „Herr Alster zu sprechen?" „Bedaure sehr— gnädiger Herr für niemanden sichtbar." „Für niemanden sichtbar?" Herr Schweder kannte das. Ergriff in die Westentasche, worin sich ein kleines Vorrathsmagazin bestechlicher Gründe für die Nothweudigkeit, den gnädigen Herrn sofort zu sprechen, befanden.„Ich muß Herrn Alster sogleich sprechen." Der pfiffige August war nicht gewöhnt, sich für derartige Liebenswürdigkeiten unzugänglich zu erweisen. Aber er that ein wenig verlegen.„Bitte um Verzeihung! Habe mich wohl nicht deutlich ausgedrückt," sagt er und ließ das Geldstück, welches ihm der freigebige Herr Schweder in die Hand gedrückt, nachdem> er sich durch das Gefühl überzeugt hatte, daß es ein ganzer harter Thaler war, höchst befriedigt in der Westentasche verschwinden. „Herr Alster sind vor einer Stunde verreist, kommen aber," fügte er tröstend hinzu, als er sah, daß sich des Besuchers Gesicht