So sehr sich Rath Goethe über den vorläufigen, durch die Promotion seines Sohnes gekrönten Erfolg der juristischen Stu dien desselben freute, so schien ihm doch auch jetzt das Wesen des Doktors noch zu exzentrisch, sein Gebahren zu kraftgenialisch, und daß er sich neben seiner literarischen Thätigkeit auch noch den Uebungen im Reiten, Fechten, Schlittschuhlauf mit erneutem Eifer hingab, gefiel ihm nun vollends garnicht. Er sandte ihn deshalb im Frühjahr 1772 nach Weylar, damit er sich beim dortigen Reichskammergericht mit dem deutschen   Civil- und Staats­recht vertrauter mache.

Die Gesellschaft mehrerer junger, ausgelassener Gesandtschafts­sekretäre, in der er sich zuerst in Wetzlar   vergnügte, befriedigte ihn bald nicht mehr, nnd er schloß sich an den feingebildeten Gotter  , welcher 1770 in Gemeinschaft mit Boie den Göttinger Musenalmanach  " gegründet hatte, an. Gotter   veranlaßte in der Folge Goethe zu Beiträgen für Boie's Almanach und brachte ihn auch in Berührung mit den göttinger Dichtern( Klopstock  , die Gebrüder Stolberg, Fr. Jacobi, Jung- Stilling), deren ungestümer Freiheitsdrang in Goethe   mächtig nachwirkte und aus verschie­denen Stellen des ,, Gög" kraftvoll herausklingt. Durch denselben Mann wurde er auch mit dem damals 24 Jahre alten hannöver schen Legationssekretär Kestner   bekannt, dem Bräutigam von Charlotte Buff  . Letztere war die Tochter des Amtmanns Buff, der in Weglar ein Besißthum des damals schon arg herunter­gekommenen ,, Deutschen Ordens  " verwaltete und daselbst das so­genannte ,, deutsche Haus" bewohnte. Welchen Eindruck Goethe auf Kestner machte, geht aus einem Briefe des letzteren hervor, dem wir folgende Stellen entnehmen: Im Frühjahr 1772 fam hier ein gewisser Goethe aus Frankfurt  , seiner Handthierung nach Dr. juris, 23 Jahre alt, einziger Sohn eines sehr reichen Vaters, um sich hier dies war seines Vaters Absicht- in praxi um­zusehen, der seinigen nach aber den Homer, Pindar   u. s. w. zu studiren, und was ſein Genie, seine Deukungsart und sein Herz ihm weiter für Beschäftigungen eingeben würden." ,, Er hat sehr viel Talent, ist ein wahres Genie und ein Mensch von Charakter, besißt eine außerordentlich lebhafte Einbildungskraft, daher er sich meistens in Bildern und Gleichnissen ausdrückt."... ,, Er ist in allen seinen Affekten heftig, hat jedoch oft viel Gewalt über sich. Seine Denkungsart ist edel; von Vorurtheilen soviel frei, handelt er, wie es ihm einfällt, ohne sich darum zu be fümmern, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt." ,, Er ist nicht, was man orthodox nennt, jedoch nicht aus Stolz oder Caprice oder um etwas vor­stellen zu wollen."... ,, Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten; denn, sagt er, ich bin dazu nicht genug Lügner." ,, Vor der christlichen Religion hat er Hochachtung, nicht aber in der Gestalt, wie sie unsere Theologen vorstellen." Ich wollte ihn schildern, aber es würde zu weit­läufig werden, denn es läßt sich gar viel von ihm sagen. Er ist mit einem Worte ein sehr merkwürdiger Mensch. Ich würde nicht fertig werden, wenn ich ihn ganz schildern

wollte."

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Goethe's   Verhältniß zu Charlotte Buff   ist bekannt. Sie war, damals erst 16 Jahre alt, bereits zwei Jahre mit Kestner   ver­sprochen, und flößte Goethe, kaum daß er sie kennen gelernt, durch ihr einfaches, natürliches, munteres Wesen eine schwärmerische Neigung ein, welche dann im Werther  ", gemäß seiner schon hervorgehobenen inneren Nöthigung, das Selbsterlebte poetisch dar zustellen, ihren charakteristischen Ausdruck fand. Der Werther" sagte der Dichter noch im Jahre 1824 zu Edermann ist auch so ein Geschöpf, das ich, gleich dem Pelikan, mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe. Es ist darin soviel Innerliches aus meiner eigenen Brust, soviel von Empfindungen und Gedanken, um damit wohl einen Roman von zehn solcher Bändchen auszustatten." Hinzugefügt mag noch sein, was Kestner über die Persönlichkeit seiner Braut Lotte sagt: Sie hat, wenn sie gleich keine ganz regelmäßige Schönheit ist, eine sehr vortheil­hafte, einnehmende Gesichtsbildung; ihr Blick ist wie ein heiterer Frühlingsmorgen.... .. Er( Goethe) bemerke bei ihr Gefühl für das Schöne der Natur und einen ungezwungenen Wih, mehr Laune als Wiz."

Mit Karl Wilhelm Jerusalem  , dessen tragisches Schicksal der andere, wenn auch nicht direkte, Antrieb zur Schöpfung des ,, Werther  " gewesen ist, und den wir hier schließlich noch kurz zu erwähnen haben, pflegte Goethe   keineswegs Umgang, da der stille, schwärmerische junge Mann die Zurückgezogenheit liebte. Er war der Sohn eines protestantischen Pfarrers zu Riddaghausen

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und hatte Goethe bereits als Student in Leipzig   kennen gelernt. Als Sekretär bei der braunschweigischen Gesandtschaft in Weylar weilend, verfiel er, von heißer Leidenschaft zu der Gattin eines Freundes, des pfälzischen Sekretärs Herdt, erfaßt, immer mehr in Trübsinn und machte seinem Leben am 30. Oftober 1772 durch eine Kugel freiwillig ein Ende. Jerusalem   war nament­lich ein feiner Kenner der englischen Literatur, und grade die düster- schwermüthigen Dichtungen, die uns unter dem Namen Ossian  " überliefert sind, haben ihn wohl in die Irrgänge einer schwärmerischen, erschlaffenden Melancholie hineingelockt. Seine Philosophischen Abhandlungen" hat Lessing  , mit dem er zu Wolfenbüttel   befreundet ward, im Jahre 1776 heraus­gegeben.

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Am 11. September 1772 reiste Goethe, ohne vorher von Kestner und Lotte Abschied zu nehmen, von Weylar weg, um sich so einer Umgebung zu entziehen, die für sein Herz immer gefährlicher zu werden drohte. Nach einer herrlichen, an mannich­fachen Anregungen reichen Lahnreise kam er in Koblenz   an, wo er im Hause des Geheimraths von La Roche   mit Merck zu­sammentraf und in Gesellschaft vor allem der Frau von La Roche  , der Jugendgeliebten Wielands, und ihrer ältesten Tochter Maxi­miliane, der künftigen Mutter Bettina's, deren schwarze Augen mit feuriger Lebendigkeit in die trübe, nebelschwangere Atmo­sphäre seines Gemüths hineinleuchteten, schöne Tage verlebte. Dann ging es in Gesellschaft Mercks und seiner Familie den Rhein   hinauf, wieder Frankfurt   zu.

Nach der alten Mainstadt zurückgekehrt, widmete er sich so­wohl, von seinem Vater darin unterstützt, der Rechtspraxis mit größerem Fleiß als vorher, wie er andrerseits, neben vorüber­gehenden Studien in der Malerei, seine literarischen Beschäfti gungen, unter denen die Umarbeitung des Göz" die erste Stelle einnahm, fortsette. Die Wirkung dieses Schauspiels war sowohl beim Publikum wie bei der Kritik eine große, eine fast enthu­siastische. Der kühne Ausdruck des Geistes der Freiheit, die Opposition gegen das französische   Wesen, und die Originalität nicht weniger als die Kraft der Sprache bereiteten ihm einen Triumph durch ganz Deutschland  ." Die Nachahmungen folgten sich in so großer Zahl und in so rascher Folge, wie die Pilze aus der Erde hervorwachsen, sodaß das Stück auf die Entwick lung des deutschen Dramas, selbstverständlich, ohne daß Goethe eine Schuld daran zur Last gelegt werden kann, leider zunächst einen keineswegs heilsamen Einfluß ausgeübt hat.

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Wenn wir im Göz" den einen Merkstein der goethe'schen Sturm- und Drangperiode und das bedeutendste Werk dieser überhaupt erblicken müssen, so sind die Leiden des jungen Werthers  " der andere. Denn, wie mit Recht hervorgehoben worden ist, war diese Zeit nicht blos eine Periode titanenhaften, kraftgenialischen Ringens, sondern auch eine solche ungesunder Sentimentalität. Während der nächsten Jahre unterhielt der Dichter einen lebhaften Briefwechsel mit Kestner und Charlotte  , hatte aber seine Leidenschaft zu dieser wohl schon überwunden, als er im Sommer 1773 den im Februar des folgenden Jahres vollendeten Roman begann, wenn auch die Worte, mit denen er das im September von 1774 an Lotte geschickte Exemplar be­gleitete, noch bewegt genug flingen. ,, Lotte," schrieb er ,,, wie lieb mir das Büchelchen ist, magst Du im Lesen fühlen, und auch dieses Exemplar ist mir so werth, als wär's das einzige in der Welt. Du sollst's haben, Lotte, ich hab es hundertmal gefüßt, hab's weggeschlossen, daß es niemand berühre. Lotte!- Und ich bitte Dich, laß es außer Meyers niemand iezzo sehen, es kommt erst die Leipziger Messe in's Publikum. Ich wünschte, jedes läs' es allein vor sich, Du allein, Kestner allein, und jedes schriebe mir ein Wörtgen. Lotte Adieu Lotte!..." Wie bekannt, erregte das Buch das größte Aufsehen, nicht blos in Deutschland  , sondern selbst in fernen Ländern, eben, weil es so ganz aus der Stimmung seiner Zeit heraus geschrieben war. Diese( durch die englische   Literatur, durch Youngs Nachtgedanken, Shakespeare's Hamlet und Ossian   genährte) Gesinnung" erzählt Goethe   selbst in ,, Wahrheit und Dichtung  " über die Ursache dieses außer ordentlichen Erfolgs ,, war so allgemein, daß eben Werther  deswegen die große Wirkung that, weil er überall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen Wahns öffentlich und faßlich darstellte. Ich fühle mich, wie nach einer General­beichte, wieder froh und frei. Das alte Hausmittel war mir diesmal vortrefflich zu Statten gekommen. Wie ich mich aber dadurch erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde