Russen und Engländer in Asien  .

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hauptmann war aber ein tüchtiger Kolonist und Organisator, denn er gründete die Städte Tobolsk  , Tjumen  , Pelym und Beresow, zu deren Entwicklung er europäische Ansiedler herbeizog. Seine Helfershelfer konnten sich in die geordneten Verhältnisse nicht finden und drangen nach echter Kosakenart weiter nach Osten, um der Jagd und der Fischerei obzuliegen. Der Ertrag ihrer Beute veranlaßte den heute noch blühenden Belzhandel, zog Handels- und Gewerbsleute nach und vermehrte die Ansiedlungen. Im Jahr 1604 entstand auf diese Weise die Stadt Tomst. Durch Genossen aus der Kosakenheimat, der Ukraine  , verstärkt, drangen die wilden Gesellen immer weiter in die nomadisi­rende Bevölkerung vor und gründeten Kuzneßt, Jeniseist, Irkutsk  , Selenginst und Nertschinsk. Die gut bewachte chinesische Grenze sezte ihrem Vordringen nach Süden ein Ziel, aber eine Abtheilung der Wag hälse brach nach dem Amur   und nach Kamtschatka   auf. Innerhalb 59 Jahren waren alle sibirischen Völker, mit Ausnahme der Bewohner der Tundra, der Küste des Eismeeres, Tschuftschen genannt, unterworfen. Da sich die friedfertigen Ureinwohner Sibiriens  , Samojeden, Tungusen und Mandschus, willig mit den Eroberern vermischten, blühten auch bald die Hantierungen des Friedens. Im kolywanischen und nertschins tischen Gebiete wurden Bergwerke mit ergiebiger Ausbeute angelegt, und zogen immer mehr Ansiedler an. Leider gingen alle diese nuz­bringenden Anstalten in kurzer Zeit in die Hände der russischen Re­gierung über, welche die freien Arbeiter durch müssige Leute" d. h. Verbrecher verdrängte. Nicht aus Menschlichkeitsrücksichten, sondern um Sibirien   zn bevölkern, wurde in Rußland   im Jahre 1799 die Todes­strafe abgeschafft und die Verbannung nach Sibirien   als allgemeiner Grundsaß aufgestellt. Mörder, Diebe und Falschmünzer bekamen das Vorrecht der freien Jagd auf den unabsehbaren Schneegefilden, poli­tische Verbrecher begrub man in der sternenlosen Nacht der Bergwerke. Im Anfange des 19. Jahrhunderts schickte man jährlich 3-4000 solcher Individuen als Kulturdünger nach Sibirien  , wobei sich aber bald der Mangel an Frauen herausstellte. Um die Bevölkerungsskala nicht sinken zu lassen, gewährt die russische   Regierung den Angehörigen der De­portirten freie Reise nach Sibirien  . Ausschließlich mit Verbrechern be­völkerte Ortschaften gibt es in Sibirien   trop der starken Zufuhr nicht, sondern sie haben die schon vorhandenen und auf anderen Grundsäßen gegründeten Kolonien vermehrt. Bis zum Jahr 1848 zählte man in allem etwa 135,000 folcher Verbannten in Sibirien  , sicherlich eine ver­schwindend kleine Zahl Bewohner für einen Flächeninhalt von 240,000 Quadratmeilen, aber die leßten stürmischen 30 Jahre haben ein dop­peltes Kontingent geliefert. Was die Zukunft dieser in der Weltgeschichte einzig dastehenden Verbrecher- Kolonie ist wer fann es wissen!

Die Besetzung der Hauptstadt Afghanistans  , Kabul  , durch die Eng­länder lenkt die Blicke Europas   nach Asien   und zwar nach jener von nomadisirenden Kirgisen bewohnten Hochebene zwischen dem Gebirge Hindu- Kusch und dem Kaspischen Meer, welche seit unvordenklichen Zeiten der Schauplab blutiger Schlachten war. Kelten, Germanen und Slaven  , sowie später die Hunnen, Avaren, Magyaren und Tartaren haben hier blutige Spuren ihres Durchzugs zurückgelassen. Der russische   Historiker Marlinsky erzählt uns von gewaltigen Städte- Ruinen an den Flüssen Amu- Darja   und Sir- Darja, welche auf eine hochentwickelte Gesittung spurlos verschwundener Kultur- Staaten zwischen dem Aral- See, dem Kaspischen Meer und dem Hindu- Kusch schließen lassen. Der Völker­schutt, den der Russe mit Blut beneßt, um neue Formen daraus zu fneten, hat leider mit seinen Vorfahren, die vielleicht mit den den Griechen bekannten Scythen identisch sind, nichts gemein als die eidechsen­artigen Augen und die Ausdauer zu Pferd. Sehen wir uns am Leit­faden der Geschichte um, wie Rußland   und England dazukommt, ihre Kulturmission" in Asien   zu erfüllen, d. h. möglichst viel Land zu ver­schlucken, bis beide zur Beförderung der Verdauung sich in die Haare fahren. Lange wird der Kampf um die asiatische Hegemonie nicht auf sich warten lassen, weil die geschworenen Feinde nur noch 350 Kilo­meter auseinanderstehen; soweit ist es beiläufig von Kabul  , dem eng­lischen Hauptquartier in Afghanistan  , nach Merw   in Teketurkmanien, dem vorgeschobensten Posten der Russen. Man kann in gewissem Sinne behaupten, daß ungefähr um dieselbe Zeit als im Westen Amerika   ent­deckt wurde, im Osten Rußland   als etwas ganz Neues und bis dahin so gut wie völlig Unbekanntes dem Wahrnehmungskreise der Westeuropäer erschlossen wurde. Als ein ,, Entdecker Rußlands  " ist der Gesandte des deutschen Kaisers Maximilian des Ersten, Herberstein, bezeichnet worden, dessen Werk über Rußland   lange Zeit hindurch die einzige Quelle über dieses Land abgab, dessen mündlichen Erzählungen über Rußland   ver­muthlich der Bruder Carls des Fünften, Ferdinand, Ulrich von Hutten und andere Gelehrte ued Politiker der Reformationszeit mit der größten Spannung lauschten. Die Entdeckung des Seewegs nach Rußland   im Jahre 1553 ließ in England eine ganze Literatur über Rußland   ent­stehen, so daß Milton, als er etwa ein Jahrhundert später sein Werk über Rußland   schrieb, eine ganz stattliche Reihe von Quellenschriften aufzuzählen vermochte. In der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahr hunderts wußte man von Rußland   genug, um in Betreff des An­wachsens der Macht dieses mehr und mehr in den Gesichtskreis Europas  tretenden Staates die lebhafteste Besorgniß zu empfinden. Kein Ge­ringerer als Herzog Alba   machte auf die Gefahr aufmerksam, welche den europäischen   Staaten einst von Rußland   drohen werde. Im 17. Jahrhundert steigerte sich das Interesse für Rußland   noch mehr, folgte doch der universalste Kopf jener Zeit, der deutsche Philosoph Leibnitz  , den Fortschritten Rußlands   mit stets wachsender Spannung, und faßte den Entschluß, seine Kraft dem aufstrebenden Reiche zur Ver­fügung zu stellen. Der ehrliche Leibniz meinte damit der gesammten Welt einen wesentlichen Dienst zu leisten, ein Beweis, daß jeder Mensch, der gescheiteste nicht ausgenommen, ein Kind seiner Zeit ist. Mit dem Czar Peter, den die Geschichte den Großen" nennt, trat Rußland   die Epoche der Wandlung an. Dieser gewaltsame Reformator konnte es nicht erwarten, sein Volk von Grund aus veredeln zu sehen, er pfropfte deutsche und holländische, seine Nachfolgerin Katharina französische Reiser auf die Krone. Diese trägt nun ihre südlichen Früchte, der derbe Stamm und seine weit ausgebreiteten Zweige treiben die alten Holzäpfel fort. Die plößlich und gewaltsam eingeführte Civilisation ist nirgends in die unteren Schichten der Gesellschaft eingedrungen, d. h. Rußland   ist, ohne seine asiatische Barbarei abzustreifen, eine europäische Großmacht gewesen und hat sich in Moskau   konzentrirt. Sie hat sich auch in dem worden. Die europäischen   Mächte haben sich dadurch selbst eine Zucht­ruthe gebunden, daß sie die Scheidewand, die sie vom Baltischen bis zum Schwarzen Meere vor den Barbaren schüßte, das unglückliche Bolen, vernichtet haben. Ob die russische   Politik nach Peter's Testa­ment verfährt oder nicht, die Thatsache steht fest, daß sie die Türken zum Schaden Europas   von den Nordküsten des Schwarzen Meeres  verdrängt hat und gierig die Hand nach Konstantinopel   ausstreckt. Nach der blutigen Niederwerfung des Kaukasus   ist der Schahinschah ( König der Könige) von Persien   nur ein geduldeter Satrap von Ruß­ land  , und stehen einmal die Kosaken in Schiras   und Ispahan  , so stoßen sie mit den Engländern in Herat   und Kabul   zusammen. Wir wollen näher untersuchen, wie der Koloß mit den thönernen Füßen" ein Ländergebiet im nördlichen Asien   erworben hat, das doppelt so groß ist, als das gesammte Europa  .

Jm 16. Jahrhundert besaß die russische   Familie Stroganow   zu beiden Seiten des Uralgebirges, der geographischen Grenze zwischen Europa   und Asien  , ein weites, vom russischen Czar Feodor I. ihr als Lehen zugewiesenes Gebiet, dessen reiche Schäße an Eisen, Kupfer, Blei und Zinn auszubeuten sie das Vorrecht bekommen hatte. Destlich von diesem Gebiete, zwischen den Flüssen Tobol  , Ischim   und Irtisch  , hatte Khutschum- Khan ein firgisisches Khanat, Namens Sibir  , gegründet, und da von diesem Gefahr drohte, so wendeten sich die Stroganow 1579 an einen Führer donischer Kosacken, Namens Jermat Timofejeff, der bisher die Rolle eines Freibeuters gespielt, mit der Aufforderung, sich zu ihrem Schuße in ihren Dienst zu begeben. Jermat willigte ein, und die nunmehr beginnenden Kämpfe endigten damit, daß acht Jahre später das Khanat Sibir russisches Besißthum ward. Der Räuber­

Die anderen Errungenschaften Rußlands   in Asien  , die turkmenischen Khanate Chiwa  , Khokand und Bokhara  , gehören alle der neuesten Zeit an. Daß Rußland   nach der Eroberung von Merw  , dem letzten Boll­werk der renitenten Turkmanen, am Fuße des Hindukusch nicht Gewehr im Arm stehen bleiben wird, ist eine Naturnothwendigkeit. Was hin­dert den Romanow'schen Alexander, seinem Vorgänger, dem makedoni schen Alexander, nachzuahmen und in die Niederungen des Ganges   und Indus   hernieder zu steigen? Der Rubel reitet vor dem Kosaken und bei den Maharadschas von Indien   ist alles käuflich. Sind die Russen Kolonisten und Kulturträger für Asien  ? Sie sind es unbedingt, wenn sie den Augiasstall im eigenen Lande reinigen. Es entsteht die wich­Großen" betretenen tige Frage, ob man auf dem von Peter dem Wege fortschreiten, die Civilisation fremder Nationen und anderer Kli­maten immer weiter herab verbreiten, oder ob man versuchen will, dieses gelehrige Volt aus sich selbst zu kultiviren. Die Reaktion gegen die seit hundert Jahren eingeschlagene Richtung ist von Anfang dage­

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eben erst beendeten Kriege kundgegeben und ist nicht glücklich gewesen. Die Russen werden noch lange nicht ohne die Hilfe der Fremden fertig werden, namentlich nicht ohne die Beständigkeit, das Geschick und die Pflichttreue der Deutschen  , denn nur langjährige und eiserne Strenge wird redliche russische   Beamte schaffen können. Dieses Argument darf man bei Beurtheilung der russischen Regierungsweise nicht außer Acht lassen.

Die Verhältnisse von Innerasien sind so entseßlich, daß den Bewohnern desselben selbst die Russen als Befreier erscheinen. Nach­stehende Daten werden genügsam unsere Annahme bekräftigen. Die jetzt ziemlich verödete Dase Merw   am Südostrande der Turkmenensteppe, welche in den Zeitungen eine so gewichtige Rolle spielt, war noch im vorigen Jahrhundert eine fruchtbare, verhältnißmäßig dicht bevölkerte Gegend, in deren Mitte der Ort gleichen Namens, die älteste Stadt Centralasiens  , liegt. Bis zum Jahre 1795 war Merw   ein blühender Ort; da aber ließ der Schah Murad von Persien   den Damm zerstören, der die Wasser des Muryhabflusses in einem großen See zur Bewässe­rung der Stadt sammelte. Merw  , bisjeßt im Besitz der Inka- Turk menen, wurde 1815 von dem nördlichen Nachbar, dem Khan von Chiwa, bezwungen und verblieb demselben zwanzig Jahre tributpflichtig. Später suchte Persien   sich des Landes zu bemächtigen, erlitt aber im Feldzuge von 1860 eine vollständige Niederlage. Seitdem hat zwar der Schahin­schah wiederholt Versuche gemacht, diese Scharte durch Grausamkeiten auszuweßen, was ihm jedoch nicht gelungen ist. Seit der Eroberung Chiwas durch die Russen haben die letteren fortgeseßt ihr Augenmerk auf die Besegung Merws gerichtet, um von dort aus das indobritische Reich zu bedrohen. Merw   zählt gegenwärtig an 2000 seßhafte Bewohner