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Die Zersehung der bürgerlichen Parteien und die Partei der Zukunft.
Die verhängnißvollen letzten Reichstagswahlen haben wie mit grellflackernden Blißen den tiefen Zerseßungsprozeß beleuchtet, der sich im Schooße der alten bürgerlichen Parteien vollzieht.
Das Ergebniß dieses Zersetzungsprozesses läßt sich in Kürze dahin zusammenfassen, daß die Bourgeoisie mehr und mehr alle freiheitlichen Ideen, deren Bannerträger sie dereinst im Kampfe gegen Adel und Geistlichkeit war, wie einen unbequemen und schädlichen Ballast von sich wirft und wieder dem Absolutismus in die Arme sinkt, den sie einst als ihren größten Feind haßte und mit allen Mitteln befehdete.
Diese Thatsache liegt heute offen zu Tage und es fragt sich nur, welche Ursachen ihr zu Grunde liegen und ob diese Ursachen dauernder Art sind und daher auch die Entwicklung der nächsten Zukunft beeinflussen
und beherrschen werden.
Man hat die heute herrschende Parlamentsmehrheit ein„ Angstprodukt" genannt, und mit Recht. Aber es gilt noch Klarheit darüber zu gewinnen, ob es eine vorübergehende Angst vor einem drohenden Kriegsausbruch, oder ob es eine tiefere, unauslöschliche Furcht vor ganz anderen Erscheinungen war, was die Besitzenden mit ihrem Schweif von abhängigen und unselbständigen Eristenzen in das Lager der Reaktion zurückscheuchte.
Hier müssen jedem Nachdenkenden sofort folgende Thatsachen auffallen: Wenn das Bürgerthum innerlich seine alten Freiheitsideale noch hochhält und nur von der Bestürzung des Augenblicks überrumpelt wurde warum ließ es sich 1878, wo doch tiefe Friedensruhe über ganz Europa lag, ebensoweit nach rückwärts drängen?
Wenn lediglich das vermeintliche Waffenklirren an unserer Weſtgrenze die Bourgeoisie kopfscheu machte- warum ist die bürgerliche Demokratie am spurlosesten gerade im Königreich Sachsen von der Bildfläche verschwunden, in einem Lande also, welches, im Herzen Deutschlands gelegen, von einem Einmarsch feindlicher Armeen weniger bedroht ist als andere Provinzen und Bundesstaaten? Warum hat gerade hier das Bürgerthum, das dereinst in Dresden Barrikaden baute, nicht erst seit heute und gestern, sondern schon seit langen Jahren alle freisinnig- demokratischen Elemente ausgemerzt?
Wenn man diesen Fragen einmal Auge in Auge gegenübersteht, so wird man auch nicht lange mehr um eine Antwort verlegen sein: das Bürgerthum ist und wird überall da reaktionär, wo sich ihm ein starkes Proletariat als ziel und selbstbewußte politische Partei entgegenstellt. Das Bürgerthum, welches mit der französischen Revolution seine Herrschaft antrat, schwärmt und kämpft für die Freiheit, solange deren Früchte ihm allein zufallen. Das Bürgerthum aber fürchtet die Freiheit und gräbt ihr selber das Grab, sowie der Arbeiterstand sich anschickt die liberalen Errungenschaften" für sich und gegen die politische und wirthschaftliche Alleinherrschaft der Besitzenden auszunuzen.
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So trägt die bürgerliche Politik die niemals etwas anderes war als eine Interessenpolitik der besitzenden Klassen heute nothwendig ganz andere Züge als in der Zeit des sieghaften Emporstrebens des dritten Standes, in der Zeit des Kampfes mit den alten privilegirten Ständen und dem ganzen absterbenden Feudalismus.
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In dieser Sturm- und Drangperiode predigt das Bürgerthum die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlig trägt weil die Macht der Gleichheitsidee die schärfste Waffe gegen die Vorrechte der„ Privilegirten" ist. Zu jener Zeit hat es die schrankenloseste individuelle Freiheit auf sein Banner geschrieben weil die vollste demokratische Freiheit zunächst dem dritten Stand die politische Herrschaft sichert. In jenen Tagen verlangt es Toleranz für alle Meinungen und Aeußerungen weil es noch das stolze Selbstvertrauen besitzt, daß die freie Forschung, wie die freie Rede und Schrift der bürgerlichen Ideenwelt nur neuen Glanz und neue Kraft geben können.
Welche greisenhaften Züge zeigt hingegen die Bourgeoisie der Gegenwart! Gewiß, alle Freiheiten zu opfern ist sie auch heute noch nicht bereit, aber die Freiheit, die sie heute noch„ meint," ist allein die Freiheit des Unternehmers von allen hemmenden Fesseln. Freiheit in der Hinaufſetzung der Arbeitszeit, Freiheit in der Herabdrückung der Löhne: das find auch heute noch Forderungen der„ Liberalen ". Sonst aber hat die bürgerliche Klasse ein Ideal nach dem anderen aufgegeben, weil sie mit deren Verwirklichung sich gegenwärtig ins eigene Fleisch schneiden würde. Die vollste Demokratisirung der Gesellschaft, die Freiheit der Versammlung, der Rede und Presse, würde früher, bei einem starken Mittelstand, dem Bürgerthum genügt haben, sie würde aber heute, bei einem starken Proletariat, den Arbeitern einen maßgebenden Einfluß sichern darum ist das Bürgerthum heute ein Feind der Demokratie. Das Coalitionsrecht würde heute manchem Uebergriff der Unternehmer wehren darum rührt sich keine Hand, wenn dieses Recht mehr und mehr illusorisch gemacht wird. Darum ist das Bürgerthum mehr und mehr reaktionär geworden und darum wird es immer reaktionärer werden, je stärker und unangenehmer die Arbeiterbewegung wird.
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Das ist das innerste Wesen des großen Zerseßungsprozesses, dessen tiefgreifende Wirkungen bei den letzten Wahlen plötzlich in so verblüffender Greifbarkeit hervorbrachen.
Wenn nun aus den geschilderten Ursachen unsere innere Politik immer mehr nach rückwärts drängt, brauchen wir darum die Hoffnung auf eine Wendung zum Bessern aufzugeben? Nein, denn während sich in unserer modernen Gesellschaft auf der einen Seite jene Entwicklung vollzieht, welche die schlimmsten Befürchtungen wecken könnte, tritt auf der anderen Seite mit immer wachsender, elementarer Wucht eine neue
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treibende Kraft des Fortschrittes auf, welche uns die Ueberwindung aller freiheitsfeindlichen Bestrebungen verbürgt das ist die Arbeiter= partei. Wir wollen es nicht verhehlen, auch die arbeitende Klasse treibt Interessen politik, aber indem sie ihre Interessen verficht, streitet sie zugleich für alle hohen Zukunfts ideale der Menschheit.
Gewiß, aus dem Lager der Arbeiter sind oft herbe Anklagen gegen die Fälschungen der Wissenschaft" geschleudert worden, aber nur, soweit die Wissenschaft, ihrer hohen Miſſion vergessen, sich dazu hergab, beschämende Thatsachen zu beschönigen und unheilvolle Bestrebungen durch trügerische Lehren zn stüßen. Aber kein Stand hat jemals Bildung und Aufklärung so hoch geschäßt, denn jeder Fortschritt der Aufklärung des Volkes ist zugleich ein Schritt weiter zum Siege der Bestrebungen der Arbeiter.
Es ist nicht zu bestreiten, daß der Sozialismus zuweilen die galligste Kritik an unseren„ Freiheiten" geübt hat, doch diese Kritik galt stets allein der thörichten Auffassung, daß mit der Errungenschaft der liberalen der politischen Freiheit satt werden könne. Die Freiheit an sich hat nieFreiheiten unſer Entwicklungsgang abgeschlossen sei und daß man von mals eine Partei so hochgehalten, wie die der Arbeiter, weil sie der freien Bewegung wie der Luft bedarf, um vorwärts zu kommen.
Wenn die herrschenden Mächte Meinungen ächten und deren Aeußerung untersagen, so wird das Proletariat immer und immer wieder die Fahne der Toleranz entrollen, weil es die vollste Toleranz nicht entbehren kann, um seinem Ziele näher zu gelangen.
Alle jene Ideale, welchen das Bürgerthum untreu wird, weil es für seine Interessen fürchtet, alles Große und Erhabene, was die Menschheit errungen hat in ihrem langen qualvollen Emporringen aus der Barbarei, das wird eine letzte Zuflucht suchen bei den heute geringgeschäßten Arbeitern und es wird nicht vergebens auf ihren starken Schutz vertrauen.
Daß der Arbeiterstand dereinst die Kraft haben wird, diese herrliche Friedensaufgabe zu erfüllen, das gestehen selbst seine Gegner, wenn sie weitsichtig sind, zu: je mehr der Mittelstand mit seinen Anhängseln verschwindet, desto zahlreicher und stärker werden die Arbeiter.
Daß der Arbeiterstand auch Willens ist, alle Ideale zu pflegen und zu schirmen, das beweist uns seine Vergangenheit und Gegenwart und diesen opfermuthigen Willen weiter zu festigen und ihn ganz zu das wird durchtränken mit dem Bewußtsein der Höhe seines Zieles stets unſere ſchönste Aufgabe sein.
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Was die Parteien der Vergangenheit nicht leisten konnten, weil ihnen sehr bald ihre eigenen Interessen im Wege standen, das wird die Partei der Zukunft dereinst dauernd für die Menschheit gewinnen. Das ist unser Trost in den Wirren der Gegenwart!
Frauen- Emanzipation und Arbeiterinnen- Bewegung.
Das berühmte Wort des Königsberger Demokraten Johann Jacobi , daß die Gründung des kleinsten Arbeitervereins für den künftigen Culturhistoriker von größerer Wichtigkeit sein werde, als die Schlacht bei Sadowa, läßt sich mit demselben Rechte auch auf jene ersten, schüchternen Versuche der jüngsten Vergangenheit anwenden, bei denen es galt, eine gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterinnen zu bilden.
Nicht die großen Haupt- und Staatsaktionen, deren Kanonendonner und Pulverdampf noch immer einer engherzigen und bezopften Geschichtsforschung die Sinne verstopfen, sind es, welche die Culturentwicklung ausmachen; nein, anders geht der Fortschritt der Menschheit vor sich. Unscheinbar im ersten Beginn, allmählich wachsend und sich entfaltend, unzählige Einzelbewegungen und Einzelschicksale in sich fassend, entsteht eine gewaltige, die Trümmer der Vergangenheit mit sich fortreißende, kulturelle Strömung und wird zur geschichtlichen That.
Soll aber eine Idee ihre Kraft entwickeln und im machtvollen Ringen mit der alten Gedankenwelt Sieger bleiben, so müssen ihre Wurzeln in die ökonomischen Zustände der Epoche hinabreichen, welcher sie angehört. Die jeweiligen Produktionsverhältnisse sind es, die sich in den Köpfen der Menschen wiederspiegeln und dort die Gedanken und Vorstellungen, die Wünsche und Forderungen hervorrufen. Ohne diesen sozialen Untergrund schweben die Ideen wie Seifenblasen in der Luft und zerplaßen wie diese. Sie bleiben, solange sie nicht den sozialen Verhältnissen entsprechen, Utopien.
Eine solche Utopie war auch zunächst die Jdee der Frauen- Emanzipation, wie sie auf dem klassischen Boden der Empörung gegen das Alte, in Frankreich , zuerst ausgesprochen wurde. Der Sturm der franzö sischen Revolution hatte die Ketten des Feudalismus von der bürgerlichen Gesellschaft abgestreift, sie konnte ihre jungen Riesenglieder recken und sich nach Herzenslust auswachsen. Die Menschenrechte" waren proklamirt und in die Form eines bürgerlichen Gesetzbuches ausgegossen worden. Alles schien in wundervoller Ordnung zu sein, und doch waren neun Zehntel der ,, befreiten Menschheit" der Freiheit nicht theilhaftig geworden. Diese neun Zehntel waren die Frauen und die Arbeiter.
Den Arbeitern, die in schöner Raserei" für die Revolutionen der Bourgeoisie ihre Haut zu Markte getragen hatten, wurde wohl die persönliche Freiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz zugestanden, aber diese Errungenschaften blieben für sie blutleere Phrasen, weil ihre ökonomische Abhängigkeit von den Besizenden nicht beseitigt, sondern verschärft worden war. Der Grad ihrer Arbeitsanspannung in fremdem„ Dienst" wuchs mit dem Wachsthum der Großindustrie, und ihr Antheil an den Genüssen des Lebens sank, je zahlloser und zugänglicher sie die Entwicklung der Technik schuf.