Social- Politis ches Wochenblatt.
Inhalt: Der sozialistische Parteitag in St. Gallen  . Entwicklung und Charakter der franzö- stschen Arbeiterparteien. Fortschritte des Sozialismus: l. Amerika  ; 2. England; 3. Jta- lien. Ans der Schweiz.   Die Beschlüste des St. Gallener   Parteitages. Meine arme Maria. Novelle. Die Arbeitsbörse in Paris.   Kann dem Hand- werk geholfen werden? Die Arbeitslosigkeit in London.   Vereine und Versammlungen
Zum St. Gallener Parteitag der deutschen  Sozialdemokratie. Gebeugt erst zeigt der Bogen seine Kraft. Grillparzer. Neun Jahre sind es jetzt, seit das Sozialistengesetz in Deutschland   in Wirksamkeit trat. Niemand sah damals eine derartig scharfe Handhabung der Ausnahmebestimmungen und der dehnbaren Paragraphen des gemeinen Rechtes voraus, wie sie mit der Energie der Verzweiflung auf Seiten der Besitzenden in den letzten Jahren beliebt worden ist. Aber selbst bei einem loyalen Gebrauch aller Macht- mittel der Polizei und Justiz glaubte man damals binnen weniger Jahre die zielbewußte Arbeiterpartei zur politischen Bedeutungslosigkeit herabdrückcn zu können. Es ist anders gekommen. Eine kurze Zeit schien es allerdings, als ob Rathlosigkeit und Verwirrung in die Reihen des Proletariats eingedrungen sei. Aber diese rein äußerliche Krisis war rasch überwunden. Die Schwärmer für das Sozialistengesetz mußten sehr bald mit langen Gesichtern eingestehen, daß jedenfalls viel Geduld dazu gehören würde, das vorschwebende Ziel zu erreichen, wenn sie auch das Ziel selber zunächst noch nicht aufgaben. Neun Jahre sind darüber hingegangen, im politischen Leben einer Nation ein wahrhaft lächerlich kurzer Zeit- räum, der im gewöhnlichen Laufe der Dinge ganz be- deutungslos ist für eine Wandlung der politischen An- schauungen des Volkes. In Deutschland   aber haben die neun Jahre hingereicht, alle scheinbar baumstarken Vor- stellungen von der geringen Kraft des Sozialismus nieder- zumähen wie eine schnittreife Saat. Wahrlich, der Poli- tiker, der heute noch von einer Erdriiching des Sozialis­mus auch nur wie von einer ganz fernen, schwachen Hoffnung sprechen wollte man würde allgemein von ihm annehmen, daß er in der großen weltgeschichtlichen Tragödie, die sich vor unseren staunenden Augen entrollt, den Narrenpart zu übernehmen sich entschloffen habe. Wir sagen damit nicht, daß die Bourgeoisie jemals wieder ihre Repressivpolitik fallen lassen werde; aber die Erwar- tungen, welche sie daran knüpfte� hat sie längst fallen lassen. Sie will den Sozialismus sowenig wie jemals dulden, aber sie rechnet mit ihm, weil sie die uner­schöpfliche, unwiderstehliche Lebenskraft fühlt, welche ihn in allen seinen Gliedem durchfluthet. Und noch mehr! Sie rechnet nicht nur mit dem Sozialismus, wie man auch mit einem im Innern ver- achteten Gegner rechnet; sie fürchtet ihn nicht nur, wie man auch die Böses wirkende Kraft fürchtet, sondern sie achtet ihn; mit ihrem Haß ist mag sie es nun offen eingestehen oder nicht gleichzeitig ihre Bewunderung der heute im Verborgenen schon Alles beherrschenden Be- wegung gewachsen. Und sie hat allen Grund dazu! Welche Partei hätte unter so starken Verlockungen von rechts und links jemals so unerschütterlich ihren Standpunkt gewahrt? Von rechts eine Zeit lang mit Schmeicheleien und Anerbietungen bedacht, haben die Ar- bester Teutschlands doch niemals kampfesmüde ihre Fahnen gesenkt, um einen unrühmlichen Frieden zu schließen, der niemals Dauer haben könnte. Von links wegen ihrer Politik desZauderns" angegriffen, hat die Sozialdemo- Kaste niemals ihre kühle, berechnende Ruhe verloren. In Roth   geboren und erzogen, und täglich und stündlich mit der Entbehrung kämpfend, haben ihre Anhänger doch nie­mals jenen opferfreudigen Idealismus eingebüßt, der im
rastlosen Ringen um die nackte Existenz so leicht bei schwachen Naturen erstirbt. Keine Partei der Reichen hat jemals solche Spenden auf dem Altare ihrer Ideale nieder- gelegt wie diese Partei der Armen; niemals, soweit unser Blick in die Fernen der Vergangenheit schweift, haben Menschen größere Opfer für ihre Ueberzeugung und ihre Ehre gebracht, wie dieseBarbaren  ", deren Leben an sich schon ein einziges großes Opfer ist. Und das, was täglich und stündlich sich immer stärker und herrlicher offenbart, das sollten die Gegner nach einer neunjährigen Lehrzeit noch immer nicht fühlen und be- greifen? Nein, Hand aufs Herz: die Sympathieen seiner Gegner zu erringen, daraus zu hoffen, fällt dem Sozialismus niemals ein und ist ihm niemals eingefallen wo Klasseninteresse gegen Klasseninteresse steht, da ver- mögen weichere Gefühle aus keiner Seite auszukeimen; aber die Achtung und Bea-chlung der Gegner hat er sich er warben, ohne daß er sich darum bemüht hat. Das hat sich gerade bei dem Parteitag in St. Gallen  unverkennbar gezeigt. Mag sein, daß manchergute Bürger" zu den Berichten über die Verhandlungen der Sozialisten nur darum so hastig griff, weil ihn eine un- bezähmbare Neugierde drängle, zu erfahren, wie eine Partei, der in Deutschland   jedes öffentliche Zusammen- treten verwehrt ist, sich auf dem freieren Boden des Aus- landes bewegen würde. Gewiß wird auch mancher streb- same Mitbürger den Vorbereitungen und Ergebnissen der Konferenz gefolgt sein, lediglich um bei dem verhaßten Gegner eine verwundbare Stelle zu entdecken, nach der man mit irgend einem Monstreprozcß zielen könne. Die Mehrzahl der Blätter und Leser hat aber zweifellos des- halb dem Parteitag so große Aufmerksamkeit gewidmet, weil sie wußte, daß alle Kundgebungen desselben für unsere innere und äußere Politik Merk- steine sind, an denen keine Partei und keine Re- gierung achtlos vorüber gehen kann. Aus die zum Theil unglaublich thörichten Urtheile der bürgerlichen Presse über die Berichte aus St. Gallen  kommen wir vielleicht später einmal in anderem Zusammen- hange zurück. Heute mögen uns an unsere Leser zu den Verhandlungen einige Worte gestattet sein, für deren Er- gänzung wir auf die weiter unten abgedruckten Beschlüsse und Resolutionen hinweisen. Ein Parteitag kann niemals dazu da sein, alle die Partei irgendwie näher berührenden Fragen im Detail zu regeln. Selbst wenn er dazu Zeit und Neigung hätte, so würde dies nicht einmal wünschenswerth erscheinen. Diese Einsicht wird zweifellos mancher dem Parteitag Beiwohnen- der gewonnen haben, und es sind aus diesem Grunde viele Wünsche und Anliegen von selbst unterdrückt oder für später zurückgestellt worden. Darüber zu klagen oder zu rechten wäre vollständig nutzlos, da die ganze Lage der Umstände kein anderes Versahren gestattete. So war es z. B. nur zu billigen, daß Beschlüsse über Abänderung des sozialdemokratischen Programmes nicht gefaßt wurden, daß man vielmehr lediglich allen Anwesenden und den Genossen draußen im Lande eine eiftige Erwägung ge- wisser Programmpunkte anempfahl und daß eine Kom- Mission den Auftrag erhielt, das Programm zu revidiren, bestimmte Abänderungsvorschläge zu machen, zur Diskussion zu stellen und dem nächsten Parteitag zur endgültigen Entscheidung zu unterbreiten. Die diesjährige Bersamm- lung war einfach nicht genügend vorbereitet, definitive Stellung in dieser überaus wichtigen Angelegenheit zu nehmen; und ob sie nun alles beim Alten gelassen oder voreilige Abänderungen beliebt hätte, ein Schaden für die Partei wäre in jedem Falle eingetreten. Im letztem Falle aus Jedermann ohne Weiteres einleuchtenden Gründen, im ersten Falle, weil alsdann kaum so rasch eine neue Tis- kussion des Programmes möglich gewesen wäre; die Partei hätte sich für die nächste Zukunft sestgenagelt�gehabt, und dazu den Anstoß zu geben, konnte am wenigsten in der Absicht derjenigen liegen, welche am tiefften von der Reformbedürftigkeit des Programmes überzeugt waren. Ein Fehler wäre es auch, allzu großen Werth aus den Wortlaut der gefaßten Resolutionen zu legen. Man weiß, wie Resolutionen in Versammlungen entstehen; sie sind Compromisse; wenn Meinungsverschiedenheiten zum
Ausbruch gekommen sind, so bieten sie vielfach weder ein genaues Bild der einen noch der anderen Richtung, zu- weilen nicht einmal eine in allen Theilen zuverlässige Vor- stellung der die Versammlung im Großen und Ganzen be- herrschenden Strömung. Hier gewinnt die Resolution erst die richtige Farbe, wenn das Bild der Verhandlungen selber dazukommt. So steht es zunächst Jedem frei, aus der Stelle: Ter Parteitag enipstehlt den Parteigenossen, überall da, wo Erfolge in Aussicht stehen, in die Wahlagftation einzu­treten, sei es für den Reichstag  , die Landtage oder die Gemeindevertretungen, doch ist insbesondere in Bezug ans die letzteren sorgfältigste Erwägung geboten mehr die Ermunterung im ersten oder die Warnung im zweiten Theile herausklingen zu hören. Wer aber über die Verhandlungen selber orienstrl ist, wird wissen, daß alle Redner aus Norddeutschland wie aus Süddeutschland   welche auf die Erfahrungen bei den Gemeindewahlen überhaupt zu sprechen kamen, sich nicht sehr erbaut zeigten und daß sie daher auf diesorgfältigste Erwägung" mehr Werth legten, wie auf denErfolg", mit dem ferner zweifellos auch gar nicht der sehr zweifelhafte Erfolg einer bloßen Mandatsvermehrung gemeint sein kann. Geht man von dem, wie gesagt, einzig zutreffenden Gesammtbild der Verhandlungen in St.-Gallen aus, so werden als dessen hervorstechendste Grundzüge zu bezeichnen sein: die einmüthige Abwendung aller Parteigenossen von jeder Hoffnung, die Reaktion jemals mit Hilfe der bürgerlichen Demokratie überwinden zu können, die daraus folgende Abkehr von jedem Com- promiß und jeder Unterstützung gegenüber anderen Parteien bei Wahlen, die schärfere Betonung des Klassen-Charakiers der sozialistischen   Politik und damit die ausgeprägte Erkenntniß der völligen Aussichtslosigkeit der staatsmännisch" vermittelnden Thätigkeit im öffent- lichen Leben, die Einschränkung der früher bisweilen ausge- tauchten Erwartungen betreffs einerpositiven" Thätigkeit im Parlament und die lebhaftere Befür- wortung eines mehr rein kritischen und agitatorischen Verhaltens in den Vertretungs-Körperschaften des Volkes. Hier hat sich, wie man allgemein fühlte, in unglaub- lich kurzer Zeit ein Umschwung vollzogen, wie er größer, ausgebreiteter und lieser kaum gedacht werden kann und der ganze Parteitag stand unter dem Eindruck dieses Gefühls. Ob die Regierungen und die herrschenden Parteien mit diesem Umschwung zufrieden sind, werden wir bald sehen. Jedenfalls sind sie es, welche zur Herbeiführung dieses Resultates mehr beigetragen haben, als alle par- lameruanschen und literarischen Vertreter des Sozialismus zusammen; die Regierungen durch ihr immer schärferes Vorgehen gegen alle Lcbensregungen der Arbeiter, die Parteien durch ihr Verhalten bei den Wahlen. Das Sozialistengesetz und die Geheimbundsprozesse haben mir nimmermüden Hammerschlägen alles das hart geschlagen, was dereinst weich und nachgiebig schien. Der Freisinn hat durch seine elende Fahnenflucht dem Volke bewiesen, daß ihm der Besitz, die Niederhaltung sozialistischer Erfolge über alle Grundsätze geht, und die Klasse der Besitzlosen hat darum nichts mehr mit ihm zu schaffen. So ist die Einmürhigkeit der Partei durch Harle Lehren nach allen Seiten gewachsen, und wenn es jemals einen rechten Flügel der Sozialdemokratie gegeben hat, heute giebt es ihn nicht mehr. Das hat der Partei- tag unwiderleglich bewiesen; es lag in St.-Gallen nicht nur in der Lust, sondern es klang jedem, der hören wollte, von allen Seiten vernehmlich entgegen. Die Marschroute wird in Zukunft noch mehr wie früher für alle Anhänger der Sozialdemokratie ein und dieselbe sein, und wer Ge- lüfte hat, Seitenwege einzuschlagen, weiß von jetzt ab, daß er mit dem einen ersten Schritt sich bereits von dem Gros der Partei trennt und für sie verloren ist.