Berliner  

GBL

KESSLER

REGIERUNGS BAUMEISTER UND INGENIEUR

BERLIN  

Volks- Trisine.

Social- Politisches Wochenblatt.

Die Berliner Volks- Tribüne" erscheint jeden Sonnabend früh.- Abonnements- Preis für Berlin   monatlich Bom 1. Oktober ab durch jede Post- Anstalt des Deutschen   Neiches zu beziehen. Bei direkter Zusendung

Redaktion und Expedition: S.O.( 26). Oranien- Straße 23.

1.

Inserate werden die 4 spaltige Petit- Zeile oder deren Raum mit 20 Pfg. berechnet. Inseraten- Annahme in der Expedition: Oranien- Straße 23.

Sonnabend, den 6. August 1887.

fg.( frei ins Haus). Einzelne Nummer 15 Pfg. Kreuzband vierteljährlich 1 Mt. 60 Pfg. beitsmarkt: 10 Bfg.

Ausgabe für Spediteure: Merfur" Zimmer- Straße 54.

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L. Jahrgang.

Anser Programm.-

Jeder ernst strebende Mensch wird bei der Verfolgung unseres öffentlichen Lebens oft das Bedürfniß der Sammlung und Verties ung empfunden haben, das Be­dürfniß, wieder einmal einen gedrängten Ueberblick da zu gewinnen, wo der Blick sich allzusehr ins Einzelne zu verlieren drohte.

Hier soll die ,, Berliner Volks- Tribüne", ein Wochenblatt, eine vielempfundene Lücke ausfüllen.

Andere wieder, obwohl nicht abgeſtumpft gegen das öffentliche Leben, sind von Sorge und Arbeit so sehr in Auspruch genommen, daß sie gar nicht die Zeit übrig behalten, jeden Tag ein umfangreiches Blatt zu lesen. Auch für diese, sowie für Leser, welchen ein Tageblatt zu theuer ist, wird die Berliner   Volks- Tribüne", wie wir hoffen, hochwillkommen sein, da sie alles Wissenswerthe auf politischem und sozialem Gebiet in gedrängter Uebersicht enthalten soll.

Die ,, Berliner   Volks- Tribüne soll zunächst ein Führer sein in allen praktischen Tagesfragen des öffentlichen Lebens. Was unsere parlamen­tarische Körperschaften verhandeln, was in der Presse und in Vereinen an Reformvorschlägen erörtert wird, was den lauten Kämpfen der Parteien zu Grunde liegt und was die stille Forschung der Sozialwissenschaft beschäftigt das alles wollen wir gemeinverständlich und belehrend behandeln.

Naturgemäß müssen uns dabei heute einige Fragen in erster Linie beschäftigen.

Wir werden der Arbeiterbewegung aller Länder aufmerksam folgen, die Organisationen( Trades Unions, Fachvereine, Unterstüßungskassen 2c.), von denen sie getragen wird, eingehend schildern und ihre Erfolge wie die Ursachen ihrer Mißerfolge darlegen. In Deutschland   werden wir den Fachvereinen, ihrer Entfaltung, wie ihrer behördlichen Drangsalirung, unsere Blicke besonders zuwenden und nach Kräften dahin wirken, daß die alten, ihre Wirksamkeit hemmenden Geseze beseitigt und ab­geändert werden.

Den Fortschritt der Arbeiterschutzgesetzgebung werden wir unablässig zu fördern suchen, sei es durch furchtlose Enthüllung der vernichtenden Wirkungen der un­eingeschränkten Arbeitsausnußung, sei es durch Aufklärung über die unschäßbaren Folgen gefeßlichen Einschreitens. Auch über jeden wichtigeren Fortschritt der Fabrikgefeß­gebung im Auslande werden wir regelmäßig berichten.

Nachdem die Arbeiterversicherung einmal ins Leben gerufen ist, wäre es falsch, sie nicht nach Kräften zum Nußen der Arbeiter auszubauen. Hier werden wir uns zwei Ziele stecken: Erhöhung der vielfach ganz unzulänglichen Kassenleistungen, und Erweiterung der Rechte der betheiligten Arbeiter. Die Versicherungskassen müssen sammt und sonders allmählich Selbstverwaltungsorganisationen der Arbeiter werden. Das zu erstreben, werden wir unablässig mähnen, und speziell bei der gesetzlichen Regelung der Altersversicherung gedenken wir auf das Eingehendste die Wünsche der Arbeiter zu vertreten.

Wir werden dabei aber niemals die letzten großen Fragen der sozialen Emanzipationsbewegung aus dem Auge verlieren, und überall, wo die Arbeiterbe­wegung in eine bloße Fach- und Kassensimpelei zu entarten droht, werden wir auf die fernern und höheren Ziele hinweisen und so, berathend und anfeuernd zugleich, werden wir der Sache der Arbeiter nach Kräften dienen.

An Feinden und Verfolgungen wird es uns dabei nicht fehlen und viele werden es überhaupt für unklug halten, unter den heutigen Verhältnissen ein Blatt unserer Tendenz herauszugeben. Dem halten wir aber entgegen, daß die oberste Behörde die hier in Frage kommt, die Reichskommission" allem polizeilichen Uebereifer dadurch Grenzen gezogen hat, daß sie gegen Ende März die Entscheidung fällte, daß der sozialistische Charakter eines Blattes und seiner Artikel an sich kein Verbot begründen könne. Und nun Glück auf! Wir werden alle Kräfte für unsere Aufgabe einfeßen. Mögen uns alle, die fich bedrückt fühlen und die aus einer trüben Gegenwart einer besseren Zukunft entgegenstreben, in unserem Bemühen unterstützen. Die Redaktion der Berliner   Volks- Tribüne."

Die Altersversicherung der Arbeiter.

In den letzten Wochen schwirrten die widersprechend­sten Nachrichten durch die Luft über den Stand der Vor­bereitungen zur Altersversicherung.

Anfangs hieß es, ein vollständiger Gefeßentwurf liege bereits beim Reichskanzler, um dessen Zustimmung zur Einbringung im Bundesrath zu erhalten. Jetzt wird diese Mittheilung dahin berichtigt, daß nur gewisse allgemeine Grundzüge entworfen und- unter dem Siegel des Schweigens den Bundesregierungen zur Begutmachung übermittelt seien.

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freuen soll, nur einen noch niederdrückenderen Einfluß| Frauen, ferner die kleinen selbstständigen Berufstreibenden. ausüben. Von den dann noch übrig bleibenden Betheiligten würden Zunächst sollen die sehr zweifelhaften Wohlthaten des die älteren Leute die heute schon fünfzig Jahre alt Herrn Winnich nicht einmal allen Arbeitern in gleicher find überhaupt niemals etwas bekommen; die Personen Weise zu theil werden. im Alter von 40 bis 50 Jahren würden nach durchschnitt­Einmal müsse wahrscheinlich wegen des engen lich 20 bis 30 Jahren einen Theil der zehn Mark erhalten, Busammenhanges mit der zunächst bei Seite bleibenden und die heute noch nicht Vierzigjährigen würden nach mehr die Versicherung der im Erwerbs- als dreißig Jahren zehn Mark Taschengeld beziehen. leben thätigen Frauen verschoben" werden.

Wittwenversorgung

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Wir unterschäßen die Langmuth der deutschen   Arbeiter Ferner sei es sehr zu erwägen", ob nicht die kleinen nicht, aber daß sie( wie Herr Winnich meint) um solcher selbständigen Erwerbsthätigen" auszuschließen seien, die Reformen" willen mit dem Staate in eine neue, sehr bekanntlich in Deutschland   millionenweise vorhanden sind innige Verbindung treten würden", weil eine soziale und die vielfach gerade das kümmerlichste Dasein fristen. Revolution es fraglich machen würde, ob die Altersklassen Ist sonach etwas Bestimmtes nicht zu erfahren, so Bielleicht sei diesen Klassen( die Winnich selbst auf ca. ihren Verpflichtungen nachkommen können" das erlauben weisen doch verschiedene Aeußerungen der Regierungspresse 5 Millionen schäßt), der freiwillige" Beitritt zu gestatten" wir uns denn doch zu bezweifeln. darauf hin, daß der Plan der Regierung kaum wesentlich was weiter kein Fortschritt wäre, denn freiwillig, ohne Daß Herr Winnich endlich noch die Altersversicherung verschieden ist von dem des Herrn Winnich, welchen wir Reichszuschuß", kann sich heute schon jeder versichern. Verbänden anvertraut sehen will, in welchen die Unter­darum unseren Lesern etwas eingehender vorführen wollen.*) Aber damit noch lange nicht genug, daß der Kreis nehmer die erste Geige spielen, wird Niemandén nach Zunächst die Frage: welche Rente soll nach Herrn der Bezugsberechtigten auf diese Weise schon unerträglich dem bereits Gesagten mehr verwundern. Mußten wir Winnich der Altersinvalide erhalten? Es ist bekannt, daß verkleinert worden ist! Auch innerhalb der beträchtlich bisher nur auf die Dürftigkeit der Wohlthaten unserer vor etwa drei Jahren der Regierungsrath Kretschmann zusammengeschrumpften Auserwählten kann nicht jeder so Sozialreformer hinweisen und mehr verlangen, so fühlen vorschlug, monatlich drei Thaler= neun Mark zu gewäh- ohne Weiteres seine Hand nach den zehn Mark aus wir uns hier, bei der Frage der Organisation, verpflichtet, ren, für die Witwen aber zwei Thaler sechs Mark. strecken. prinzipiellen Widerspruch zu erheben. Wir wollen Damals hat man sich viel über diese Almosenversicherung| Zunächst sollen hier wieder alle Leute, die beim Ins- keine Wohlthaten, über welche Unternehmer beschließen, luftig gemacht und spöttisch gefragt, ob es sich lohne, um lebentreten der Alterskassen schon 50 Jahre erreicht haben, und welche daher nur zu leicht zu einem neuen Mittel solche Trinkgelder die ganze Gesetzgebung und einen von der Versicherung ausgeschlossen bleiben. Diese Leute werden, die Arbeiter unterthänig und gefügig zu machen, riesigen Verwaltungsapparat in Bewegung zu setzen. Aber würden nach Winnich, bis zum Eintritt ihrer Versorgungs- die Arbeiter, auf deren Selbstständigkeitsstreben und Un­Herrn Winnichs Projekt zeichnet sich durch eine ebenso große berechtigung nur ganz geringe Beiträge zahlen und dafür abhängigkeitssinn unsere Zukunft beruht.

Wir wollen

Bescheidenheit aus. Nach demselben soll die Rente könne man ihnen nicht so hohe Vortheile" zuwenden. Organisationen, Selbstverwaltungsorganisationen der jährlich 120 Mart, also monatlich zehn Mark, eine Mark Bleibt somit für die mehr als Fünfzigjährigen gar nichts, Arbeiter, aber keine Berufsgenossenschaften, wie sie bei mehr wie bei Herrn Kretschmann betragen. Dazu sollen so sollen auch alle diejenigen, die hoch in den Vierzigern der Unfallversicherung zur Durchführung gekommen sind, die Witwen und Waisen einstweilen sehen, wo sie bleiben, in die Alterskasse eintreten", nicht die vollen Ansprüche und auch keine Innungsverbände, wie sie Herr Winnich denn Herr Winnich erwähnt zwar die Nothwendigkeit ihrer geltend machen können; sie würden sich mit weniger als für das Handwerk wünscht. Versorgung, aber bestimmte Vorschläge unterläßt er; er 10 Mark im Monat zu begnügen haben. Herr Winnich Hier können sich unseres Erachtens die Arbeiter gar fonstatirt nur zu seinem Bedauern, daß diese Zukunfts- munkelt in einem eispiel von sieben Mart. Nur wer nicht unerbittlich genug zeigen. Lieber kleinere Renten versicherung einen noch erheblich höheren Aufwand" er- heute unter vierzig Jahren ist, soll das Recht auf die( wenn sie überhaupt kleiner sein könnten als bei Herrn wenn er fiebzig Winnich), aber dafür volle Unabhängigkeit und fordern werde. vollen zehn Mark erhalten und zwar - als fettere Trinkgelder und dafür Ist somit die Höhe der Rente durchaus nicht geeignet, Jahre alt geworden ist! Dieses Alter hält Herr Winnich Selbstverwaltung besonders erhebend auf die Arbeiter zu wirken, so kann die für das durchschnittliche Invaliditätsalter, nur in manchen neue Abhängigkeit und neue Versuche, zu halten was doch nicht haftet". Ein paar Groschen mehr oder weniger Festsetzung, wer sich des Rechtes des Rentenbezuges er- Berufen trete die Arbeitsunfähigkeit früher ein. Faßt man diese Ausführungen zusammen, so ergiebt machen die Arbeiter weder reich noch arm. Aber ein Stück sich also, schärfer gezeichnet, folgendes Bild: Auszuschließen Selbstständigkeit mehr, das ist für die Zukunft eine unschäß­von der Versicherung sind überhaupt die erwerbsthätigen bare Waffe, um rascher unsere ferneren Ziele zu erreichen.

*) Derselbe wurde veröffentlicht in den Preußischen Jahr büchern" Bd. 58, Heft 6.

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