Social- Politisches Wochenblatt. Inhalt: Die Sozialdemokratie und die bürger- lichen Parteien.   Ucber Jnnungswcscn. Die Arbeitslosigkeit und die lÄetverksch asten. Fortschritte des Sozialismus- Ans London  . Ibsen  , Vjörnson und die Sozialdemokratie. Die sächsischen Landtagswahlen. Berliner   Sittenbild.   Die Arbcitsbörse in Paris.   Strafgelder nnd Lohnabzüge. Be- trügerische Geschäftspraktiken. Znr Frage der Kinderarbeit. Die Sozialdemokratie und die bürgerlichen Harteien in Deutschland  . Wenn das politische Leben eines Volkes von einer weitblickenden, vonirtheilslosen Vernunft und nicht von blinden, einseitigen materiellen Interessen beherrscht wäre, so würde der Sozialismus vielleicht in der vorthcilhaften Lage sein, unter dem Schutze der vollsten bürgerlichen Freiheit heranzuwachsen, bis er dereinst selber zur Herrschaft berufen wäre. In den ersten Jahren seines politischen Auftretens hat er auch zweifellos auf eine derartige Entwicklung ge­rechnet und darum nach Kräften den bürgerlichen Libcra- lismus im Kampfe gegen den Polizei- und Militärstaat unterstützt. Er ist der Letzte, dafür Dank zu beanspruchen, den» er that es nur, weil es in seinem Vortheil lag. Um die Massen zu sich herüberzuziehen, mußte er hinaus vor die Menge treten darum verlangte er volle Versammlungsfreiheit und trat für jene Partei ein, welche, im Gegensatz zu anderen Bourgeoisparteien, die Erhaltung und Entfaltung dieser Freiheit aus ihre Fahne geschrieben hatte. Mit seiner Presse und seiner volks- thümlichen Literatur leuchtete der Sozialismus hinein in die Nacht veralteter Anschauungen und scheuchte die licht­scheuen Vonirtheile auf, die sich bei den Massen einge­nistet hatten wer wollte es ihm verargen, daß er darum das Recht der freien Meinungsäußerung in Druck und Schrift über Alles schätzte und der Partei freundlich gesinnt war, welche dieses Recht gegen einen gemeinsamen Gegner zu vertheidigen versprach? Der Sozialismus konnte eine Verwirklichung seiner Pläne nur durch das Volk und gegen die Herrschenden hoffen schien es da nicht nöthig, derjenigen Partei keine Verlegenheiten zu be- reiten, welche den Schutz und die Ausdehnung der Rechte des Volkes befürwortete? Man konnte dieser Partei schon damals Lässigkeit in der Vertretung ihrer Grundsätze vor- werfen, aber es wäre falsch gewesen, sie darum grundsütz- lich zu befehden. Was von ihr für uns zu gewinnen war, mußten wir natürlich für uns erobern; sonst aber hatten wir allen Grund, Frieden zu wahren. Mittlerweile haben wir nun in Deutschland   eine Reihe in der Wirthschaftsgeschichte einzig dastehender ökono- mischer Umwälzungen durchgemacht, durch deren Einfluß auch die alten Partciverhältnisse wie Kartenhäuser umgc- morsen worden sind. Die politische Einigung Teutschlands, der Milliardenzufluß und dann wieder der Schutzzollsegen, fem« die offenen und versteckten Subventionen für gewisse Jndilstrien sie haben, zusammen mit anderen wirth- schaftspolitischen Maßnahmen, in einer Weise den Unter- gang des städtischen und ländlichen Kleinbetriebes befördert und das Fortschreilen des Kapitalismus beflügelt, wie dies in keinem anderen modernen Industriestaat in so rapider Weise geschehen ist. Was für unsere Nebenbuhler auf dem Weltmarkt sich als Anschwellen der gefürchteten deutschen Konkurrenz darstellt, das heißt für unsere inneren Verhältnisse: jähes Emporwachsen des Großbetriebes, rasend rasche Venlichtung des Kleinbürgerthums und Schaffung eines gewaltigen Proletariats, das sich immer mehr in bestimmten Mittelpunkten des Verkehrs zusammendrängt und sich solidarisch fühlen und regen lernt. Und dieses Proletariat in seiner Regsamkeit und wachsenden Unabhängigkeit und Auflehnung gegen wirth- schaftliche Versklavung ist es auch, was den Anstoß zu den neuen Parteigruppirungen giebt, wie sie den neuen wirth- schaftlichen Zuständen und den damit gegebenen neuen wirthschaftlichen Interessen entsprechen und bei der gegen- seitigcn Abrechnung hat bisher der Liberalismus die Zeche zahlen müssen und er wird sie weiter zu zahlen haben. Was hat denn dem Liberalismus den Lebensnerv ab- geschnitten? Daß er schwächlicher und ängstlicher geworden ist, als er es etwa zur Konfliktszcit war? Man hört das zuweilen von rauhborstigen Demokraten noch behaupten, aber jeder Kundige wird wissen, daß gerade sein zahmes Auftreten es ist, was den Liberalismus vor seinem voll- ständigen Untergang gerettet hat, und daß die Masse der liberalen Wähler noch mehr nach rechts drängt, als die Führer heute schon stehen. Nein, was den Liberalismus lähmt und hemmt,.das ist der Umstand, daß die Ver- wirklichung seines Programms der Bourgeoisie heule ebenso gefährlich und schädlich erscheint, wie es für die- selbe Klasse nützlich und fördernd erschien, solange die Regierung und Gesetzgebung noch nicht kapita- listisch, die Masse des Volkes noch nicht sozia- listisch war. Solange die Regierung noch in feudalen Kreisen wurzelte und Anschauungen huldigte, welche den Interessen der Bourgeoisie oft zuwiderliefen, solange hatte die Bourgeoisie sehr dringenden und klingenden Anlaß, oppositionell zu sein, die Regienmgsgewalt nach Kräften zu schwächen und den Einfluß des Volkes nach Möglich­keit zu erhöhen, um so mehr, als dieser Einfluß dem Be- sitze durchaus unschädlich war. Heute, wo die Regierung mit ganzen Fluthen kapitalistischen Oels gesalbt ist, hat das Bürgerthum alles Interesse, die Regierungsgewalt bis an die Grenzen des vollsten Absolutismus   und der un- umschränklesten Militärdiktatur zu erweitern, die Macht des Volkes aber einzuschränken, weil diese Macht bei der sniher ungeahnten Ausdehnung und politischen Schulung des Proletariats heute gegen den Besitz gerichtet ist. Das Bürgerthum muß heute reaktionär sein und reaktionär bleiben, weil sein Klasseninstinkt, seine materiellen Interessen es so verlangen und immer mehr verlangen werden, je höher die Fluthen des Sozialismus steigen. Die ehemaligen Wortführer des Liberalismus haben unter solchen Verhältnissen nur die Wahl, sich dieser nothwen- digen, weil in den materiellen Verhältnissen begründeten, Entmickelnng anzupassen, oder mehr und mehr zu ver- einsamen und zu Führern ohne Soldaten zu werden. Tie Bennigsen und Miqucl haben das Elftere, die Richter und Virchow das Letztere vorgezogen der Eine sieht mehr auf den Erfolg, der Andere mehr auf seine politische Ehre, am Resultat wird hierdurch nichts geändert. Die jüngsten Wahlen haben uns nun gelehrt, daß der Umwälzungsprozeß unter den bürgerlichen Parteien bereits soweit vorgeschritten ist, daß an eine liberale bürgerliche Aera in Deutschland   niemals wieder zu denken ist. Wenn heute schon von dem letzten Häuf- lein der freisinnigen Wähler ein großer Theil in der Stunde der Entscheidung lieber mittelparteilich-gouvcrne- mental als sozialistisch-oppositioncll wählt, so beweist das, daß ein noch viel größerer Theil seinen Weg in das Re- gierungslager finden wird, wenn der Sozialismus künftig noch stärker und beängstigender auftritt. Damit ist für den Sozialismus wohl die Situation nach vielen Seiten erschwert, aber auch geklärt und un- endlich vereinfacht. Erschwert ist die Situalion insofern, als wir in Zu- kunfl darauf verzichten müssen, für die parlamentarische Wirksamkeit den Rückhalt einer starken bürgerlich-demokra- tischen Fraktion zu haben. Aber dieser Rückhalt war ein- mal schon immer höchst zweifelhafter Natur, soweit es sich um wirthschaftlich-soziale Anregungen handelre hier standen uns öfter sogar andere bürgerliche Parteien näher wie die Deutschfreisinnigen. Und zu Reformen auf politischem Gebiet hatte der linke Flügel der Bourgeoisie schon lange nickt mehr den Muth und die Kraft. Hier ist also für die Zukunft kaum noch etwas zu verlieren, was wir nicht schon verloren haben. Dazu kommt, daß diepositive" parlamentarische Thätigkeit, für die wir allerdings auf die Unterstützung anderer Fraktionen angewiesen sind, für uns gar nicht die Bedeutung hat, wie für andere Parteien, deren Bemühen sich nun einmal darin erschöpfen muß, mit neuen Flicken ein altes, zerfallendes Kleid herauszuputzen. Die gesetz- geberischen Erfolge, wie sie heute d. h. während des Bestandes der bürgerlichen Produktionsweise überhaupt für uns möglich sind, wird man immer, bei allem unleug- baren Nutzen, für den Fortgang unserer Bewegung, ftir die Ueberwindung des heutigen W i rt h sck a stssy st e m s, gering anschlagen müssen. Ganz unschätzbar ist für unsere Bewegung aber diekritische" Thäligkcil in den Volks- Vertretungen, weil dieselbe in gewaltigstem Maße die Auf- kläning der Massen zu fördern vermag; und diese kritische Thätigkeit braucht selbst durch eine Verringerung der Mandate, wie sie im Februar dieses Jahres eintrat, nicht abgeschwächt zu werden. Die parlamentarische Vertretung der Sozialdemokratie ist nicht dazu da, um jeden Preis etwas zu schaffen", sondern sie hat ihre Stimme zu er- heben, um den arbeiterfeindlichen Klassencharakter parla- mentarischer Anträge, Vorlagen und Beschlüsse zu brand- marken, um unerschrocken die Ziele auszudecken, denen unsere wirthschaftliche Entwickelung zusteuert, um die Aus- sichtslosigkeit aller Flickarbeit der Gegner zu enthüllen; sie hat für die Besitzenden und die durch den Besitz Herrschenden die Stimme des Gewissens zu bilden, die sich gerade dann um so lauter und ernster erhebt, wenn die Bourgeoisie wie elwa beim Siege der Schutzzoll- oder Kolonialpolink neue Triumphe errungen zu haben meint; sie hat da, wo Andere nur Licht sehen, auf die dunklen Schallen hinzuweisen, welche das Leben des Prole- tariats verdüstern; sie hat dies alles zu thun,»m durch ihr Verhalten die Abkehr der Massen von der bürgerlichen Politik, ihre Gewinnung für die Arbeiterpartei zu beschleu- lügen und um das Zielbcwußtsein der bereits sozialistisch Denkenden zu stählen und zu klären. Nach diesen beiden Richtungen ist uns aber unsere Thätigkeit im Parlament nur erleichtert, wenn die Gegensätze eine Schroffheit angenommen haben, die an sich schon jedem in die Augen sprinat und zum Nachdenken auf- fordert, und wenn mehr und mehr die Konkurrenz aller Parteien hinwegfällt, welche mit der freiheitlichen Phrase noch spielen, ohne sie jemals in Fleisch und Blut umsetzen zu wollen und zu können. Noch bei einer zweiten Gelegenheit ist uns heute die Oeffentlichkeit nicht verschlossen: in der Wahl- beweg ung, und auch hier brauchen wir uns wahrlich nicht zu härmen, wenn die Illusion von der einstigen Wiederkehr einer liberalen Aera verpflogen ist und wenn da- her keinerlei Rücksichten aus die auserkorenen künftigen Träger dieser Partei mehr geboten erscheinen. Der ganze Charakter der Wahlbewegung wird dadurch nur gewinnen. Auch die Wahlagitation hat für uns, wie man das anderwärts bisweilen beobachten kann, nickt de» Zweck, möglichst viel positive Erfolge" zu erzielen, d. h. möglichst viel Mandate zu erschnappen und möglichst viel Dumme hineinfallen zu lassen. Vielmehr soll sie für uns ebenfalls in erster Linie ein Mittel zur Aufklärung der Massen sein, ein Mittel, das um so unschätzbarer scheint, als ganze große Bevölke- rungskreise erst bei den Wahlen sich um politische Fragen zu kümmern beginnen. Aufklärung der Massen bedeutet für den Sozialismus aber weiter nichts als Aufklärung über die Kuliurfeindlichkeit der heutigen Repressivpolitik, Aufklärung über die Hoffnungslosigkeit der kleinbürgerlich- demokratisckieit Bestrebungen, Aufklärung über die großen, heute Alles beherrschenden Klassengegensätze, und wir können uns unseres Erachtens nur Glück wünschen, wenn wir auch nack der liberalen Seite unsere Gegensätze schärfer betonen können, als wenn wir um gewisser Zukunfts- illufionen willen zarte Rücksichten müßten walten lassen; und wir können uns weiter Glück wünschen, wenn die Gegensätze bei der neuen Parteikonstellation von selber so unvermittelt und scharf hervortreten, daß bei den Massen die Ausgabe der politischen Erziehung gewaltig erleichtert wird. So wird auch der Beschluß des St. Gallener Parteitages, bei allen Wahlen von jedem Kompromiß und jeder Unter- stützung anderer Parteien abzusehen, der Sozialdemokratie ebensosehr nützen, wie er der bürgerlichen Demokratie den Todesstoß versetzen wird. Darüber mag sich eine kurzsichtige und kurzlebige Reaktion im Augenblicke freuen; es wird dereinst aber auch der Zeitpunkt eintreten, wo ihr vor den Folgen dieses Beschlusses bange wird.