Aeibtati zur„Berliner Bolks-Hriküne".M 15 Sonnabend, den 12. November 1887. i. Jahrgang.Machdruck verboten.1Auf der Drücke.Von Manuel Schnitzer.Plötzlich stand ich dort; ich wußte nicht wie undwarum.— Aber ich konnte nicht weiter. Es war, alshielte mich Etwas fest, etwas Unnennbares, Unsägliches,eine starke dämonische Gewalt....In Sinnen verloren, war ich durch die einsamenStraßen gewandert ohne Rast, ohne Ziel; in meinerSeele brannte die verzehrende Sehnsucht nach dem Lang-verlorenen, nach einer tiefen, unergründlich tiefen Ruhe.Schwere, graue Wolken zogen langsam am Firmamentdahin; hie und da funkelte ein Stern, und zuweilen stahlsich ein einzelner, bleicher Mondstreifen durch das dunkleGewölk. Keine Stimme, nicht der Schall eines Menschen-schrittes klang durch die schweigende Nacht!Tief unter mir wälzte der Strom seine Wellen trägeund einförmig rauschend... ein Schlummerlied mochte esder Riesenstadt sein, die allenthalben ihre starren Gliederin die wie von fernen Feuerdünsten durchhauchte Luftstreckte, gewaltig in dieser düsteren Verschwommenheit, un-förmig, gespenstisch. Noch hatte ich meinen Blick demStrome nicht zugewendet: an einen Pfeiler gelehnt standich da, unbeweglich, die Faust an die nach Athem ringendeBrust gepreßt. Eine entsetzliche, jeden Nerv durckzitterndeFurcht hatte sich meiner bemächtigt, eine unbestimmte,dunkle Furcht, deren Ursache ich nicht begriff und nichtaussann.Während dieser Zeit beherrschte mich ein merkwürdiges,höchst unklares Gefühl. Es war mir, als ob Jemandvor mir stände, ein Mann, dessen Augen sich in die Tiefemeiner Seele bohrten, dessen Hand sich langsam hob, sichlangsam und schwer aus meine Schulter legte...„Wer bist Tu?" stieß ich hervor, aber die Stimmeschlug wie ein wildfremder Laut an mein Ohr; tieferhatte sich mein Haupt auf die heiser athmende Brustgesenkt.Minuten vergingen.„Du kennst mich," antwortete der Jemand endlich,und es lag wie leiser Spott in dem stahlharten Tonseiner Worte.—„Du kennst mich, Kamerad—"„Ich kenne Dich nicht," sagte ich zusammenschauernd,„was willst Du?"„Daß Du mich nicht zu kennen vorgeben wirst," er-widerte er mit einem boshaftem Lächeln,„hätte ich mirfüglich denken können, Kamerad, aber ich bin gutmüthig,mich beleidigt Dein Hochmuth nicht, alter Freund. Wasich will? Mit Dir beisammen sein, mit Dir plaudern...Laß einmal sehen-- wie lange sind wir einandernicht mehr begegnet?"„Ich habe Deine Stimme nie gehört, ich kenne D.ichnicht"; in dem Augenblicke, als ich dies sagte, wußte ich,daß ich log, vor langer, meinem Erinnern fast entschwundenerFeit hatte ich diese Stimme schon gehört, da sie nochweicher, zärtlicher, schmeichelnder geklungen. Der Mannneigte sich mir näher, ich fühlte, wie sein kühler, feuchterAthem nieine heiße Stirn streifte, wie seine Hand diemeine fest zu umklammern begann.„Sieh mich an," sagte er rauh.Langsam, unendlich langsam hob ich den widerspenstigen,zagen Blick. Fest, starr, unbeweglich sah ich der Gestaltin das seltsam leuchtende Auge.— So standen wir un.gegenüber.— Ueber sein verwildertes, tiesbleiches Antlitzzuckte es wie unbarmherziger Spott, seine Lippen schienenbitter zu lächeln.Minuten vergingen.„Kennst Du mich nun?" fragte er langsam.Meine Glieder waren wie gelähmt: der vor mir stand,trug ein Gesicht, grauenhaft ähnlich dem meinen, Zugfür Zug, unverkennbar...„Nein," knirschte ich und ver-D. mi--W°hw Du-u« sagest,?ufich hinter Dir einhcrschreiten; der Hanch mcmc. Mnndeswürde Dich vor mir hersagen. Da Du mich iahest, hatsich mein Bild in Deine Seele gebrannt, unverloschlich,unvergänglich... Als Du heute beim Weine saßest, einsam in der lärmenden Menge, ohne Ohr für ihr fröhlichesLachen, ohne Aug' für ihr lustiges, buntes Treiben kames Dir nicht zum Bewußtsein, weshalb es Dir plötzlich sodumvf wurde, so dumpf... weshalb es Dich plötzlich solief durchschauerte? Hast Du nicht gefühlt, daß ich michzu Dir gesellt hatte und stumm harrend an Deiner Seilefaß/bis es Dir gefallen Wrbe, michzu bemeden?"Wer bist Du?" fragte ich erschüttert,„duickel schwebtes mir vor— einmal im Leben sah ich Dich— weitvon hier— an einem anderen Orte— unter anderenVerhältnissen— aber Du warst milder— sanfter—heiterer."„Wer ich bin? Ich bin Dein geheimster, finstersterGedanke...."„Entsetzlicher!"„Dein Gedanke an den Selbstmord."Erst schrie ich entsetzt auf, dann überkam es mirplötzlich wie Lust, laut aufzulachen.—„Also ein Phantombist Du," sagte ich aufalhmend,„eine Täuschung meinererregten Sinne, nichts Wirkliches..." Einen Augenblickglaubte ich zu fühlen, wie die ungeheure Kraft des Un-holds nachließ; aber auch nur einen Augenblick! Imnächsten hielt er mich fest wie zuvor und flammenderglühten mich seine Augen an.„Disputire mich nur weg, mein Junge," höhnte er,„beweise haarscharf und mit den feinsten Gründen meineNichtexistenz; deswegen bin ich doch, Kamerad; deswegenstehe ich doch hier und mache Deinen feigen Leib erzittern.So stand ich schon einmal vor Dir. Als Du noch einKnabe warst, ein blasser träumerischer Junge, dem dererste Bart zu sprossen begann... fern in der Heimalh...vor Jahren... es war die Zeit, da Deine Seele sich zuweiten anfing... warum senkst Du den Blick, meinFreund?— Es war eine schöne Zeit, erinnerst Du Dich?— Wie ein Dehnen und Knospen war's... wie eintiefer, seliger Athemzug, das Leben... Und die Liebe, dieLiebe! Das erste Aufdämmern, das Ahnen unsäglicherWonnen, Kamerad... Und dann: die Enttäuschung, dererste wilde Aufschrei... das jähe Verzweifeln an Allem...weißt Du noch? Schlaflose Nächte und ein Gebet, Wahn-sinn oder--- und als Du es aussannest, hattestDu einen Gefährten— mich!"Entathmet, ohne mich zu rühren, lauschte ich denWorten des Dunkeln, dessen Stimme weich und flüsterndgeworden war; er hatte seine Arme um mich geschlungenund schwer lag sein Haupt ans meinem Herzen.—„Hm,"fuhr er fast heiter fort,—„damals war ich noch eingutmüthiger Junge und ließ mit mir spielen, Tage, Wochenhindurch... Dieses gehcimnißvolle Liebäugeln mit Allem,was den Tod bringt, dieses stundenlange Starren in dieSchanläden der Waffenhändler, in das grüne, schilfumflüsterteGewässer des Schloßteiches... erinnerst Du Dich? Welchegrauenhaften Bilder sah Dein entsetzensfrohes Auge! Wieein Kind warst Du neugierig auf das Kommende, dasLetzte... Bis es wieder Friede war in Dir... Abermein warst Du einmal; ich verließ Dich nicht mehr. Undwenn ich auch nicht vor Dich hintrat, zuweilen fühltestDu das leise Wehen meines Athems, meinen kalten Hauch;wenn Dir das Leben arm, ercignißlos und öde erschien,wenn Du im Kampfe gegen das Mißgeschick ermattetest!Die Kraft, die Du verschwendetest, kam mir zugut, derMuch, den Du verlorst, stärkte mich! Kein Glück hastDu zu erwerben vermocht, keine Seele, die Dich liebt,keine Freude, keine Ruhe... nichts... nichts... nurmich, vor dem Tu zurückbcbst. Jetzt aber habe ich Dich,jetzt halte ich Dich fest! Stark bin ich geworden, fühlstDu's? Ringe mit mir, wehre Dich, Kamerad?"Ein wilder, lautloser Kampf entspann sich zwischenuns. Ich hatte das Bewußtsein meiner Schwäche undfühlte mich unterliegen, schon hatte mich der Dunkle bisan's Brückengeländer gedrängt...„Laß mich, Schrecklicher," stöhnte ich,„nicht satt binich des Lebens, nein, ich schmachte darnach wie der Hun-gernde nach Brot.. aus den Erzählungen meiner Freundehabe ich es geschlürft, das meine war leer; es besaß nichtden Duft einstiger Fülle— es war ein Becher, der unbenützt verstaubte; aber ich möchte ihm einen Inhalt geben,eh' ich sterbe: eines Weibes volle, tiefe Liebe möchte ichgenießen, ein letztes Glück."Er lachte hart auf.—„Der Blick des Weibes bleibtan Dir nicht haften, du weißt es; sich mich an, dasAntlitz, das ich trage, ist das Deine..."„Dann möchte ich wenigstens Jemandem nützen aufder Welt, Jemand erfreuen,— einmal nur."„Man erfreut nur die, die uns lieben. Und nützen?Es giebt Menschen, deren Dasein unnütz und zwecklos,Menschen, die kein Schicksal haben;— zu denengehörst Du."„Aber wandeln nicht Tausende solcher Geschöpfe aufdieser Erde?"„Ja, aber sie besitzen das, was Du nicht Dein eigenmehr nennst, den Muth zu leben. Habe Du wenigstensden Muth zu sterben. Kamerad, ich bin der Abschluß, ichbin das Ende, sie hier!"Ich hörte das Rauschen des Stromes, sah seinebreiten, grauen Wellen sich wälzen; einsame Straßen-latenten warfen ihr Licht in seltsam bewegten, zitterndenStreifen darüber hin; der Widerschein der Brückenlampenschien bis auf den Gnind des Wassers zu gehen, unendlichtief und golden leuchtende Säulenhallen bildend, worüberdie dunkle Fluth gleichmäßig dahinrollte.„Siehst Du?" fragte der Unhold.—„Ich sehe."—„Dort ist die Ruhe, das letzte Glück..."In dumpfer Bewußtlosigkeit gab ich mich ihm hin.Ich hörte einen gellen Aufschrei, einen dumpfen Fall indas ausspritzende Wasser. Schwer hatte der Dämon michumfaßt.„Unnütz Dem Dasein, ohne Liebe Dein Leben,hinab, hinab," flüsterte er dringend, indem er mich festerumfing und mit sich hinabzuzerren versuchte. Mein ganzes,vergangenes Leben preßte sich in diesen einzigen Augen-blick zusammen; ich sah es an mir voniberschweben, pfeilschnell, jäh, unaufhaltsam... längstvcrgesscne Augenblickten mich an... voller Mitleid... in Liebe....dann blieb von alle den über dem Wasser hinschwcbendenGestalten ein Bild: meine Mutter...„Du lügst, Du lügst," schrie ich auf, und mit gewal-tigem Ruck befreite ich mich aus den Armen des Dämons.Aber meine Kraft war zu Ende. Mit der letzten stieß icheinen Hülferuf aus, noch einen, der dritte klang schon wieein tiefes Gurgeln, wie wenn ein Kind mittelst einesStrohhalmes in's Wasser bläst. Ein Hohnlachen vernahmnoch mein Ohr... hierauf ein unbestimmtes singendesBrausen und Summen. Eine unsäglich häßliche Empfin-dung überkam mich... dann verlor ich die Besinnung.Als ich den ersten Athemzug meine Brust schwellen.fühlte, durchdrang es mich wundersam: das Leben, dasLeben! Ich hörte verworrene Menschenstimmen... einLichtschein fiel mir auf das geschlossene Auge. Tief, tiefathmete ich auf, sog ich das neue Leben ein. Dann öffneteich die Augen. Neben der Bahre, auf der ich ausgestrecktlag, hingen meine von Wasser triefenden Kleider. Eineigcnthümlicher Geruch, wie von Rauch und Fischen erfüllteden kleinen Raum. Polizeibeamte kleideten mich an, ver-hörten mich, erzählten die Geschichte meiner Rettung. Be-täubt hörte ich zu, aber es war mir, als spräche manvon einer dritten Person. Dann wurde ich nach Hausegebracht.Jahre sind seitdem vergangen.Wie bis zu jener Zeit ist das große Schicksal anmir vorüber gegangen; es hat mich nicht erfaßt, es hatmich nicht durchschüttert; die große Freude, der großeSchmerz blieben mir versagt; vielleicht liegt die Schuld anmeinem trägen Blute. Aber ich habe gelernt, mich desKleinen, des Winzigen, an dem der Strom der Menschenachtlos vorübergeht, herzlicher, inniger zu freuen; es iststille, lautlose Freude oder fast heiterer Schmerz, was michbewegt, was das neue Leben mir bietet; und so wie esist, so liebe ich es.Denn ich weiß, wie der Tod ist.(„Gegenwart").Aus Kaffalle's letzten Tagen.Die Brandung faßt mich! Ist mir'szum Heil'< Reißt's mich nach oben wieden Schillcr'schcn Taucher? Fant voir!Ferdinand Lassalle.Lassalle ist auch im Kreise der Besitzenden zu einergewissen Popularität gelangt— allerdings nicht wegenseiner historischen Bedeutung, wegen seiner bcwunderns-werthen Thätigkeit als Agitator und„Rufer im Streite"der Klassen und Parteien, sondern wegen des eigenartigen,blendendeit und bestrickenden Zaubers, der seilte unge-wöhnliche und unvergleichliche Persönlichkeit umweht. AlsLöwe des Salons, als Held zahlreicher Liebesabenteuertaucht die Gestalt Lassalle's immer wieder in der Bourgeois-litcratur auf und besonders der tragische Roman, der mitdem Tode Lassalle's im Duell endete, hat immer neueDarsteller und Leser gefunden.Mit den aufregenden Ereignissen, in denen dieserRoman ausklang, beschäftigt sich auch ein eben erschienenes,mit großer Eleganz ausgestattetes Buch„Lassalle'sLeiden",*) dessen Urheberschaft wohl in der Nähe derehemaligen Geliebten des großen Agitators zu suchen ist,ein Buch, das jedenfalls allzu geflissentlich das unverant-wortliche Benehmen der Helene von Tönniges(späterenFrau von Racowitza) zu entschuldigen und zu beschönigensucht, das aber insofern von großem Interesse ist, als eseine Reihe der hinreißendsten brieflichen HerzensergüsseLassalle's zum ersten Male enthält und dadurch einen werth-vollen Beitrag zur Kenntniß dieser, auch in ihren Leiden-schassen über alles gewöhnliche Maß hinausragenden vul-kanischen Natur liefert.Man hat Lassalle oft Vorwürfe gemacht, daß er, dersoeben eine große sozialpolitische Agitation entfesselt halte,plötzlich ganz und gar in einem„Liebeshandel" aufging.Aber wenn man gerecht bleiben will, so muß man Lassalle'sganzen damaligen Gemüthszustand ut Rechnung ziehen.Als Lassalle im Juli 1864 aus dem Rigi mit Helenevon Dönniges zusammentraf, hatte er zwei aufreibendeJahre voll Sturm und Drang hinter sich. Zwischen März1862 und Juni 1864 hatte er nicht weniger als zwanzigSchriften verfaßt, von denen drei oder vier durch ihrenUmfang sowohl, wie durch ihren Inhalt ganze Büchersind und von denen die meisten, trotz ihrer Kürze undGemeinfaßlichkeit einett Gedankenrcichthum enthalten undmit einer wissenschaftlichen Schärfe geschrieben sind, die sichsehr wenigen großen Büchern nachrühmen läßt. Außer-dem hatte er zu derselben Zeit Rede auf Rede gehalten,mit einer Arbeiterdeputation nach der anderen konserirt,sich aus einem Dutzend politischer Prozesse herausge-wickelt, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegründet,eine höchst ausgebreitete Korrespondenz geführt und die*) Lassalle's Leiden. Dargestellt auf Grund einer verloren gc-glaubten Handschristensammlnng mit dem Porträt Helene vonRacowitzas. Berlin, Paul Hennig 1887.